Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
hinterher und wurden dann z. T. absolut demütigenden Verhören unterworfen. Also, ich muß sagen, durch diese Arbeit, die ich da mache, habe ich erst das ganze Ausmaß dieses Krieges begriffen. Ich habe mir eine extra große Landkarte besorgt, auf der viele kleine Örtchen verzeichnet sind, und ich begriff plötzlich, daß die Deutschen auch noch aus dem kleinsten Kaff die gesamte Bevölkerung einfach mitgenommen haben, oder die jungen Menschen wurden weggefangen von der Straße und zur Zwangsarbeit deportiert.
Da kann ich erzählen von Nadeshda Slessarewa, ein Opfer von Stalinismus und Faschismus, Tochter eines Offiziers, der 1937 erschossen wurde; die Mutter kam in ein Lager nach Sibirien, sie selbst kam in ein Waisenhaus für Kinder von ›Vaterlandsverrätern‹. Der Tante gelang es, sie zu adoptieren, doch eines Tages kamen sie in eine Einzingelung von Deutschen. Damit begann 1944 ihre zweite Leidenszeit. Sie wurden in einer endlosen Kolonne mit zahllosen Gefangenen bis nach Stettin getrieben, wo sie als 13jährige zum Bunkerbau abkommandiert wurde. Wenn man sich die Ukraine mal anguckt und weiß, wie groß dieses Land ist, kann man diesen ungeheuren Fußmarsch gar nicht fassen. Ihre Tante hat ihr die Augen verbunden, damit sie die zerstörten Dörfer nicht sieht, aber trotzdem konnte sie unter der Binde durch die Beine der Gehängten und die Leichen am Boden sehen. Später wurde sie eine Konstrukteurin, hat Brücken gebaut und U-Bahnen, ungefähr 4000 Männer hat sie unter sich gehabt auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Nadeshda ist heute ehrenamtlich im ukrainischen Opferverband tätig und ist seit dem Jahr 2000 eine unserer wichtigsten Kontaktpersonen; sie hat uns auf zahllosen Hausbesuchen begleitet und kümmert sich um mehr als dreihundert ehemalige Zwangsarbeiter. Diese Frau ist unglaublich aktiv!«
Neuer Tee wird aufgebrüht und eingeschenkt. Marina fährt fort: »Aber sie ist eine der Ausnahmen. Viele waren zeitlebens traumatisiert, manche haben resigniert, und die meisten leiden sehr unter der massiven Altersarmut, die nun in der Ukraine herrscht. Deshalb brauchen sie das Geld sofort und nicht erst in einem halben Jahr. Viele werden die Auszahlung der zweiten Rate nicht erleben. Viele sitzen krank zu Hause, ohne Medikamente! Die Durschnittsrente liegt so in etwa bei umgerechnet 30 Euro. Wenn ich für mich dort dreimal einkaufe, sind 25 Euro weg – und ich bin Vegetarierin. Die Leute können die Miete nicht mehr zahlen, geschweige denn Heizung und den Strom. Und dann haben sie ja keine Krankenversicherung und nichts – zuvor waren alle medizinischen Leistungen kostenlos –, seit ein paar Jahren müssen die Alten und Kranken alles selber zahlen: Medikamente, Arztbesuche, Operationen. Das Gute ist, daß es bei uns immer noch eine große Hilfsbereitschaft gibt; der Nachbar bringt schon mal ein Süppchen vorbei und hilft, wenn er kann. Wem das fehlt, der ist arm dran. Ich war bei einer Frau, die hatte noch ein kleines Stück Weißbrot, sonst nichts. Eine andere hatte nur noch Äpfel zu Hause und mehrere Gläser voll Weihwasser, das trank sie gegen die offenen Beine, das war ihre letzte Medizin, davon lebte sie. Wir kaufen dann natürlich erst mal ein. Kartoffeln, Nudeln, Mehl, Öl, Zucker, einen Vorrat für längere Zeit. Das steht dann in der Küche, und ansonsten sind viele Wohnungen leer, eine Glühbirne, Bett, Schrank, Tisch ein Foto, fertig! Die haben alles, solange es noch ging, zu Geld gemacht, um zu überleben. Bei anderen hingegen kommt man in die Wohnung und merkt erst gar nichts, fragt sich, warum klagen sie denn? Sie haben doch Teppiche mit Elchen an der Wand, haben Kristall. Kristall aus Polen. Eine tickende Uhr aus der DDR. Jeder konnte sich diese Dinge früher leisten. Heute sind sie keinen Cent mehr wert, weil keiner sie mehr will, die Leute wollen Dinge aus dem Westen, aus Amerika. So ist das. Wir versuchen, den Ärmsten zu helfen. Auch in Zukunft. Denn viele wurden, trotz glaubhafter Berichte über ihre Zwangsarbeit, abgelehnt, weil sie keinerlei Nachweise erbringen konnten. Oft wurden die Nachweise und Unterlagen vernichtet, gingen verloren oder wurden auch versteckt.
Dazu kann ich folgende Geschichte erzählen: Für die Frau, die mit einem Rotarmisten verheiratet war und ihm zeitlebens ihr Zwangsarbeiterschicksal verschwieg, habe ich damals in Weißenburg gesucht, nach Dokumenten und alten Aufnahmen von der Stadt. Sie erzählte mir nämlich, wie sie mit geschorenen Haaren,
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