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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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in den Lebenshilferegalen der Buchläden widerspiegeln, mit Titeln wie »Weg damit«, »Wohnungsdiät«, »Magisches Entrümpeln in 14 Tagen«, »Ballast loslassen«, sind die arbeitslosen Massen durch »Hartz IV« und die Zwangsverpflichtung zu »Ein-Euro-Jobs« der Abschaffung von Konsumdenken, Geld und Lohnarbeit schon einen Schritt näher gekommen.
    Brunnenstraße, Berlin-Mitte. Hier, so scheint es, haben Immobilienhai und Luxussanierung noch nicht so richtig zugepackt. Es gibt bröckelnde dunkle Fassaden, Trödler, türkische Imbißbuden, kleine Cafés und einen verlassen aussehenden Sex-shop von Beate Uhse aus der Zeit, als mit den neuen Ostkunden noch ein gutes Geschäft zu machen war. Der Autoverkehr wälzt sich aus Richtung Hackescher Markt gen Wedding und umgekehrt. Die wenigen Fußgänger halten sich die Jacken zu gegen den kalten Wind und streben mit gesenktem Kopf zur U-Bahn Rosenthaler Platz. Am Haus Brunnenstraße 183 hebt sich türkisfarben und etwas schrill gestaltet der Umsonstladen von den übrigen öden Hausfassaden ab. Tür und Schaufenster sind mit Zetteln vollgehängt. Es ist Freitag, elf Uhr, offizielle Öffnungszeit ist heute von 14.00 bis 18.00 Uhr, ansonsten Mo und Do 16.00 bis 20.00, Di 11.00 bis 14.00. Wir treten in den Laden ein. Er war ehemals Drogerie und nach langem Leerstand vorübergehend Kommune-Café. Der große Raum ist düster, die Wän-de aus freigelegtem Backstein sind geweißelt, teils bemalt und mit großen Bildern behängt. Gaby empfängt uns freundlich. Sie wirkt befremdlich distinguiert im abgewrackten Ambiente. Während sie den Tee zubereitet, sehen wir uns ein wenig um. Ein Mitglied des Kollektivs hat den großen Kachelofen vorgeheizt, sagt sie, damit wir es etwas warm haben. In einem kleinen Raum im hinteren Teil des Ladens gibt es Wäsche und Schuhe. Die Kleidung hängt auf einem Garderobenständer bereit, dazwischen sogar ein gut erhaltener Lammfellmantel in 60er-Jahre-Qualität, für Herren. Im vorderen Raum hängt von einer robusten hölzernen Empore herab ein rotes Tuch mit der Aufschrift »Jeder Kauf ist ein Fehlkauf«. Auf der Empore befinden sich fünf Computerplätze. Es gibt die Möglichkeit, CDs zu brennen und kostenlos ins Internet zu gehen. Derzeit ist die Technik aber nicht nutzbar. Neben einer Sitzecke mit Couch, Sesseln und wachstuchbedecktem Tisch stehen die Bücherregale, gut gefüllt, liebevoll geordnet und beschriftet nach Sachgebieten. Von G. Ch. Lichtenberg bis zu »1000 Steuertricks«, Bachofens »Mutterrecht«, DDR-Bastelbuch ist vieles da. Und auch eine kleine rote Spendenbüchse, ein Zugeständnis an die Notwendigkeit, Betriebskosten zu bezahlen (der Laden wird mietfrei genutzt). Auf der anderen Seite der Eingangstür ist die Kinderecke eingerichtet, mit Spielen, Spielsachen, Bilder- und Schulbüchern sowie einem Berg von Kuscheltieren. Hier können die Kinder selbst wählen. Den übrigen Raum füllen stabile Regale, in denen ein Sammelsurium, vom Computer über Fußwärmer, Langlaufskier, Eierkocher, Lesebrille, Toaster, Schreibmaschine, Schirmständer, Aktenordner bis zum Uhrenradio und vielem mehr, beieinander steht. Dazwischen mahnt ein handbeschriebenes Pappschild anzüglich: »Brauchst Du das wirklich, oder bist Du gierig?« In einer Ecke stehen Geschirr, Gläser, Vasen, Kochtöpfe und Besteck ordentlich wie im Küchenschrank, alles bunt zusammengewürfelt und tadellos. Man spürt es deutlich beim Anschaun der ehemaligen Waren: Ihr Tauschwert gibt immer noch deutliche Lebenszeichen. Und über all den ausgemusterten Dingen schweben wie aufgewirbelter Staub die Geschichte ihrer Vorbesitzer und die vergessene Arbeit jener Unbekannten, die sie einst gemacht haben.
    Wir setzen uns zum Gespräch, unser Hund nimmt ungerührt Platz auf einem schmutzstarrenden Teppich, und Gaby beginnt mit verhaltener Stimme zu erzählen:
    »Ich bin seit einem Jahr dabei. Wir sind eine offene Gruppe von derzeit etwa fünfzehn Personen, das Durchschnittsalter bei uns liegt so zwischen zwanzig und dreißig, in anderen Umsonstladengruppen liegt es meist zwischen vierzig und fünfzig. Es gibt keine Hierarchie. Alles wird im monatlichen Plenum besprochen und abgestimmt – auch daß das Gespräch heute hier stattfindet.« Sie lächelt aufmunternd. »Unsere Philosophie ist euch ja schon bekannt. Also, die ganzen politischen Fragen sind natürlich nach wie vor bei uns, den Aktiven, Thema. Aber entscheidend sind natürlich die, die hierherkommen. Wir sagen dazu

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