Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
das ist eigentlich ganz toll, muß ich sagen.«
Wir bitten unsere Gastgeberin, noch ein wenig über ihre Herkunft zu erzählen. Etwas zögernd sagt sie: »Na ja, ich komme aus Retzin, einem Dorf zwischen Perleberg und Pritzwalk, in der Mark Brandenburg. Wir sind ja enteignet, und dann sind wir geflüchtet mit dem Treck …« Wir fragen, wie groß das Gut war. »1800 Morgen, also ein Hektar hat vier Morgen, ich kann immer nur in Morgen. Leichte Böden, Kartoffeln, Viehwirtschaft usw. Wir mußten ja nicht in dem Sinne mitarbeiten, aber wir Kinder haben alles auch mitgemacht, damit man weiß, wie es geht, das hat uns ja auch sehr geholfen, im späteren Leben. Also, das alles mußten wir zurücklassen. Heute ist dort übrigens eine Enthospitalisierungseinrichtung für geistig behinderte Erwachsene. Na ja, damals also sind meine Eltern zunächst noch dort geblieben, wir waren ja nicht gleich enteignet. Mein Vater ist dann mit meiner Großmutter aus Pommern und meiner Schwester, die verletzt war, mit dem Auto weggefahren. Und meine Mutter, ich sag mal, meine Heldenmutter, die ist auf dem Schloß geblieben. Wir hatten ja eine ganze Menge, natürlich auch Fremdarbeiter …« »Zwangsarbeiter«, werfe ich ein. »Ja, ukrainische Arbeiter, auch Frauen. Meine Mutter hat sich aber eigentlich immer sehr um die gekümmert, vor allen Dingen, wenn sie krank waren. Meine Mutter blieb dort, bis die Russen kamen. Wir hingegen waren in der Altmark bei Salzwedel und haben bei einer Tante gewohnt. Und da haben wir dann erst mal ein Fuhrgeschäft gegründet, meine Cousine und ich, mit unserem Treckwagen und den zwei Pferden. Von Apenburg nach Salzwedel sind wir gefahren. Das wurde immer ausgeklingelt: Dann und dann fahren die Damen zu Putlitz nach Salzwedel. Und die Fahrgäste kamen dann mit ihrem Stubenstuhl, setzten sich auf unseren Planwagen. Das war der Personentransport. Dann war es ja damals so, daß alle Lebensmittel zugeteilt waren, und an die einzelnen Geschäfte in den Orten mußten wir diese Zuteilungen dann liefern. Es war eigentlich sehr schön, solange die Engländer und Amerikaner in der Altmark waren. Aber dann kamen die Russen, und es war aus mit unserem Unternehmertum. Dann mußten wir wieder in der Landwirtschaft arbeiten. Der Krieg hat alles verändert, unser ganzes Leben.«
Wir fragen nach der politischen Haltung der Eltern. »Na, auf Distanz waren die natürlich, und nach dem 20. Juli hat ja Goebbels gesagt, das sind die nächsten, die drankommen, also der Adel. Ich selbst allerdings bin durchaus in der Hitlerjugend gewesen und bin auch sehr gerne im Arbeitsdienst gewesen – das darf man ja heute nicht sagen, aber ich stehe dazu! Bis auf den ersten Vorsitzenden war das ja eine tolle Frauenorganisation, der weibliche Arbeitsdienst. Und es war ja keine Erfindung des dritten Reiches, sondern stammte noch von den Brüningschen Notverordnungen her, und einige waren noch aus dieser Zeit dabei. Es gab dann ja auch viele arbeitslose Sozialarbeiterinnen, Krankenschwestern, Lehrerinnen usw., und deshalb war der Geist ein guter. Und auch so vom Kulturellen und von der Musik her z. B. waren das ganz tolle Frauen zum Teil. Ich muß es immer wieder so sagen: Ich war gerne im Reichsarbeitsdienst, weil ich es so empfunden habe.« Wir fragen, ob die Eltern Kontakte zu Juden hatten. »Nein, eigentlich nicht. Aber das war normal bei uns im Landkreis; in Perleberg, glaub ich, da gab es nur einen Juden, der bekannt war, das war ja nicht wie in Berlin.« (Nach Auskunft von G. Radegast v. Prignitzer Heimatverein gab es sowohl i. d. sog. Reichskristallnacht Ausschreitungen gegen die Juden i. d. Prignitz als auch Deportationen der Perleberger Juden in die Vernichtungslager, Anm. G. G.) »Wir selber hatten keine Judenfreunde und haben das deswegen eigentlich auch nicht in dem Sinne erlebt. Ich meine, daß man, als alles ans Tageslicht kam, natürlich total entsetzt war, ist ja selbstverständlich. Also, über Konzentrationslager oder so, da wurde zwar immer was gemunkelt, aber kein Mensch wußte die Wahrheit. Wir jedenfalls nicht. Ich denke auch oft, daß unsere Eltern nicht mehr mit uns darüber gesprochen haben, nachher, das ist schade. Heute hätte man wahrscheinlich ein intensives Gespräch mit seinen Eltern gehabt.«
Wir alle schweigen einen Moment, der strenge Herr aus einer anderen Zeit blickt von der Wand, ich frage, ob das ein Vorfahr ist. »Ja, ein Ur-Ur-Ur-Urgroßvater, General von Winterfeld. Er hat 1730, als
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