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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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soziale Klassen, Alter, Religion verkörpert? Wie Krankheit? Was macht sie mir derart fremd? Was ist es genau, was mich an der Empathie mit ihren Klagen hindert?
    Ihre Wahrnehmungen von sich waren unvergleichbar mit denen, wie ich selbst mich wahrnehme. Aber ich wollte unbedingt verstehen, wovon sie eigentlich reden. Wie war die Selbstwahrnehmung ihres Innern?
    Der Versuch, zu verstehen wie Frauen sich um 1720 gefühlt haben, hat mir ein neues Gefühl für die Historizität meines eigenen körperlichen ›Selbst-Gefühls‹ vermittelt. Und aus dieser Distanz heraus war es möglich, die intellektuellen Einsichten in eine soziologische Analyse der technikbedingten epochalen Umund Neudefinition des Frauenkörpers, besonders auch in der Gegenwart, zu erarbeiten. Beim Versuch, herauszufinden, was das für eine Wahrnehmung des Innern bei diesen Frauen des 18. Jahrhunderts war, habe ich akribisch mit so einer, ich nenne es, Beutelmethode gearbeitet. Also: ein Beutel fürs Zittern, Beutel fürs Blut – fürs verstockte und fürs fließende Blut –, einen für die Mischung usw. Und dann habe ich versucht, die ›Sinnknoten‹ dieser anderen Wahrnehmung von sich mal auszulegen. Sofort habe ich festgestellt, daß das absolutes Neuland ist, kein Mensch hat so was gemacht vorher. Weil eben der Körper und die Biologie des 19. und 20. Jahrhunderts den Anschein vermitteln, als würde es sich hier um etwas Naturhaftes handeln. Das haben die Historikerinnen und Historiker eben auch unter der Haut. Und wenn sie auf solche Reden stießen wie von der Frau mit der Wut über den Miethmann, dann taten sie das als ›uneigentliche Rede‹ ab, von Leuten, die abergläubisch sind und eben noch nicht wissen, wie ihr Körper beschaffen ist. Das ist natürlich fahrlässig, denn die Frau weiß sehr wohl, daß die ›Bitterkeit der Worte‹ und das ›Gift‹, das sie ›geschluckt hat‹ dabei, etwas Entscheidendes mit ihr macht. Und dann habe ich versucht, diesen Körper beziehungsweise eben nicht diesen Körper – heute würde ich das Wort nicht mehr benutzen –, sondern die Somatik, ihre erlebte Somatik zu verstehen.
    Was sich natürlich aufdrängte, war, daß dieses somatische Innere in diesem Sinne gar nicht in einem anatomischen Atlas festgelegt ist, also z. B. beim ›Herzriß‹ aus Liebesleid. Besonders auch beim Blut, denn das Blut, von dem sie sprechen, ist ein Stoff, den du nicht ins Labor schicken könntest. Es ist etwas Lebendiges. Selbst in der ärztlichen Fachsprache gab es diesen Unterschied und somit diese Auffassung. Einmal bezeichnete das Wort Sanguis das ›lebendige Blut ‹ und Cruor hieß der Stoff, der ausgelassen wird beim Aderlaß und sich klumpt. Also, Sanguis läuft zwar auch aus, bei Verletzungen usw., aber solange es läuft, ist es ›lebendig‹. Also das Herz, das wissenschaftsgeschichtlich dann ganz technisch in seinen Funktionen festgelegt wurde, ist hier noch Empfindungsecho, das auf Erfahrungen und Eindrücke reagiert. Und auch das Blut ist ein Stoff innerer Wahrnehmung, in dem sich sehr viele Qualitäten ausdrücken. Zuerst mal ist es innerlich lebendig, es will wohin. Es ist regsam, oder es stockt. Das ist eines der wichtigsten Motive, diese Balance zwischen Regsamkeit und Stockung. Es ist die Balance zwischen Gesundheit und Krankheit und letztlich dem Tod, dem Sterben, die in Bilder der Hemmung, Verstockung und Versteinerung gekleidet wird. Und dann hat das Blut auch geschmackliche Qualitäten, das reicht vom Süßen bis zum Bitteren und farblich vom Dunklen bis zum Hellen. Und natürlich wird unterschieden zwischen Blut und Geblüth.
    Also, sie berichten über all diese inneren Wahrnehmungen, und der Stoff dieser Wahrnehmungen ist mir zutiefst fremd. Fremd deshalb, weil ich in mir z. B. kein Geblüth habe, sozusagen. Ich erkannte, durch die zunehmende Vertrautheit mit der Fremdheit dieser Selbstwahrnehmung der Frauen, daß die Wahrnehmungsgeschichte eigentlich in eine Wissenschaftsgeschichte eingebracht werden muß. Nur so können wir verstehen, daß die Wissenschaftsgeschichte uns konditioniert hat, etwas für ›wahr‹ zu halten, also etwas zum Stoff unserer ›Wahrnehmung‹ zu machen, was gar nicht ›wahrgenommen‹ werden kann, weil es eben objektivierende Tatsachen sind, die durch die Wissenschaftsgeschichte und durch die Popularisierung in den ›Körper‹, also in das Innere, reinverlegt wurden. Die Not ist, daß die Biologie des 19. Jahrhunderts – also das, was Foucault

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