Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Gerichtsmediziner aus Ost und West mitgearbeitet haben. Die Studien wurden getrennt publiziert, es war die erste Untersuchung dieser Art. Und seine Idee war dann, den folgenden Zeitraum auch zu erfassen, und so wurden Fälle gesammelt von 1990–1999. Und dann ist er eben gestorben. Dann wurde erst mal alles so liegengelassen. 2001 haben dann Prof. Kleemann und ich angefangen, alles zu sichten. Das Aktenmaterieal war ja noch gar nicht geordnet. Es war ganz unklar, was überhaupt da war. Wir haben im Prinzip erst mal zwei Jahre gebraucht, eine Ordnung da reinzubringen. Nebenher hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft dieses Vock-Projekt unterstützt, und die haben sich natürlich immer gemeldet und gefragt, was ist denn jetzt? Nur, wir machen das ja nebenbei und haben eigentlich überhaupt keine Zeit.
Aber wir wollten es natürlich gerne machen. Es ist ja ein ganz einzigartiges Projekt. In Deutschland hat es so eine Erhebung noch nie gegeben, wie viele Kinder tatsächlich von ihren Eltern totgeprügelt oder vernachlässigt wurden. Also, es wurden von den Rechtsmedizinischen Instituten in ganz Deutschland die Fälle von tödlicher Kindesmißhandlung hier bei uns gesammelt. Die haben uns die Aktenzeichen gemeldet, und dann sind wir an die Staatsanwaltschaften herangetreten und haben von denen die Ermittlungsakten bekommen. Die Urteile, die Urteilsbegründungen, die psychiatrischen Gutachten usw. – also die gesamte Akte im Original!
Das ist sehr ungewöhnlich, denn welche Behörde gibt ihre Akten aus der Hand? Wir wurden auch alle vereidigt. Die Arbeitsgruppe besteht, seit Prof. Kleemann tot ist, aus fünf Leuten. Also, vier Promoventen und ich machen diese Arbeit, die eben unheimlich aufwendig ist. Was wir machen wollen, ist ja nicht nur Statistik, wir wollen ja eine epidemiologische Aufarbeitung der Fälle machen, ein Risikoprofil festlegen, in welchen Familien passiert so was, unter welchen Bedingungen usw., damit rechtzeitig Interventionen erfolgen können. Und es soll ein kleines Handbuch entstehen, eine Zusammenfassung der typischen Warnsignale und Verletzungsmuster, für die Kinderärzte, für die Polizei. Weil wir eben die Vorstellung haben, daß bei rechtzeitiger Erkennung von Mißhandlung vorher schon eingegriffen werden kann, also bevor die Kinder zu uns kommen.
Die Studie umfaßt einen Zeitraum von knapp zehn Jahren, vom 3.10.1990 – also dem Vereinigungstag – bis zum 31. 12.1999. Ost und West, die gesamte neue Bundesrepublik. Die vorhergehende Studie von Vock hatte im Vergleich gezeigt, daß es da nicht so die ganz großen Unterschiede gab, trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Die Probleme liegen woanders. Früher, in der DDR, war es nämlich so, daß es eine »Anordnung über die ärztliche Leichenschau« gab, mit einer Sektionspflicht für verstorbene Kinder. Also, alle verstorbenen Kinder bis zum sechzehnten Lebensjahr mußten seziert werden. Daher liegen eben auch über die Anzahl der tödlichen Kindesmißhandlung in der DDR verläßliche Daten vor. Dann wurde das ja an den Westen angeglichen, und seither muß eben nur noch obduziert werden, wenn der Staatsanwalt es anordnet. Das heißt, wenn keine sorgfältige Leichenschau vom Arzt, der den Totenschein ausstellt, gemacht wird, wenn er blaue Flecken übersieht oder keine da sind, aber innere alte oder neue Verletzungen, dann wird das Kind bestattet, ohne aufzufallen. Ohne daß die Todesursache erkannt und dokumentiert wurde. Experten schätzen, daß circa 40 Prozent aller Leichenschaudiagnosen falsch sind. Man muß sagen, daß es eine gewisse Dunkelziffer gibt, deshalb wollen wir Vergleiche mit der Todesursachenstatistik und was es da sonst noch gibt. Aber für unsere Studie selbst, da werden dann nur die Fälle erfaßt, die durch Mißhandlung oder Vernachlässigung zu Tode kommen. Also Mißhandlung und Vernachlässigung, und zwar im Sinne einer ›Erziehungsmaßnahme‹. So hat es Prof. Vock damals gesagt. Auch das ›Schütteltrauma‹ gehört da mit rein. Was nicht rein gehört, ist Mord, sind Sexualdelikte oder religiöser Wahn der Mütter, auch nicht der ›erweiterte Suizid‹, also, wenn Eltern erst ihre Kinder und dann sich selbst umbringen. Und drin haben wir auch nicht die ›Aussetzung‹ oder das, was früher die ›Kindstötung‹ war, innerhalb der ersten vier Wochen nach der Geburt. Das ist ein anderes Delikt, kommt aber sehr häufig vor, häufiger, als man weiß. Im Rahmen des Dienstes fischen wir ja auch
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