Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
schlugen beide Elternteile straflos und nach Gutdünken. Auch an unseren Schulen gehörten Körperstrafen zum pädagogischen Kanon. In der Weimarer Republik versuchte man sie abzuschaffen, ohne wirklichen Erfolg. (Wie Erich Fromm in seiner Untersuchung »Arbeiter und Angestellte am Vorabend des III. Reiches« feststellte, waren auch SPD- und KPD-Mitglieder Körperstrafen gegenüber nicht abgeneigt.) Die Nazis führten sie dann wieder ein, und auch nach 1945 – von einer kurzen Aussetzung abgesehen – wurden sie fortgeführt im westlichen Teil Deutschlands. Die DDR erließ ein Züchtigungsverbot bereits 1949.
Die BRD begann die Körperstrafen in ihren Schulen erst 1973 abzuschaffen (auch ich bekam in meiner Schule von den Dominikanern zahllose »Tatzen« mit dem Rohrstock auf die Handflächen verabreicht, das war in den 50er Jahren in Karlsruhe). In Baden-Würtemberg wurde bis 1976 gezüchtigt, in Bayern bis 1979. Was die körperliche Bestrafung durch die Eltern betrifft, so wurde 1980 im Gesetz die »Elterliche Gewalt« in »Elterliche Sorge« umformuliert. Das war alles, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem andere Länder in Europa bereits ein Züchtigungsverbot hatten. Erst im Jahr 2000 war dann auch Deutschland so weit. Körperliche Bestrafung ist seitdem unzulässig, eben- so seelische Verletzung und andere entwürdigende Maßnahmen. Erst zu diesem Zeitpunkt wird gewaltfreie Erziehung ein einklagbares Recht unserer Kinder. Der Verstoß dagegen entspricht der Kindesmißhandlung. Dennoch hat weiterhin eine unbekannte Anzahl von Kindern unter Gewalt und Schlägen zu leiden. Die Zahlen der schätzenden Experten gehen weit auseinander. Eine Meldepflicht für Kindesmißhandlung gibt es – anders als in vielen anderen Ländern – in Deutschland nicht. Auch nicht für Ärzte. Die unterliegen zudem noch der Schweigepflicht, die sie aber nach Abwägen brechen dürfen, zugunsten des Kindeswohls, denn das ist ein »Rechtfertigender Notstand«. So mancher Kinderarzt scheut diesen Schritt, weil er mit bürokratischem Aufwand verbunden ist.
Am Leipziger Institut für Rechtsmedizin arbeitet Frau Dr. Ulrike Böhm mit einem kleinen Team seit längerem an einer Studie über »Tödliche Kindesmißhandlung und Kindesvernachlässigung in der BRD vom 3. Oktober 1990 bis 31. Dezember 1999«. Wir sind um 8.30 Uhr morgens verabredet. Ihr Institut, 1900 gegründet und eines der ältesten in Deutschland, liegt südöstlich der Leipziger Altstadt, direkt bei den Universitätskliniken. Schräg gegenüber ist der Friedenspark, der bis 1970 der Neue Johannisfriedhof war. Die unscheinbare Fassade des dreistöckigen Gebäudes ist mit alten Wurzeln von wildem Wein überzogen, noch sind sie kahl. Später im Jahr irgendwann werden seine Blätter blutrot die Hauswand bedecken und auch die eiserne schwarze Frakturschrift über dem Portal: »Institut für Gerichtliche Medizin«. Wir klingeln und werden nach einigem Warten und nach Nennung des Namens und Anliegens eingelassen. Jedes Rechtsmedizinische Institut wird fest verschlossen gehalten, von alters her. Eine gestrenge Pförtnerin empfängt uns im Hochparterre und leitet uns weiter, zwei Stockwerke höher, zu Frau Dr. Böhm. Ihr winziges Arbeitszimmer wird beherrscht von einem mit Schriftstücken bedeckten Schreibtisch, hinter dem sie Platz nimmt. Zwischen Schreibtisch und den Bücher- und Aktenregalen ist gerade noch Platz für zwei Stühle und meine Aktentasche. Das Telefon klingelt unentwegt, im Nebenhaus dröhnt ein Preßlufthammer.
»Gerade wird unser Hörsaal renoviert«, erklärt Frau Dr. Böhm, »überhaupt geht bei uns alles etwas drunter und drüber. Sie haben ja sicher die Todesanzeige gesehen auf unserer Internetseite, unser Institutsdirektor Prof. Kleemann ist im Februar gestorben. Mit ihm habe ich ja an der Studie gearbeitet. Die ursprüngliche Idee stammt übrigens von seinem Vorgänger, Prof. Reinhard Vock, der hier von 1995 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 kommissarischer Direktor war. Er kam von der Uni Würzburg und hatte die Idee und Teile der vorhergehenden Studie schon von dort mitgebracht. Diese Vock-Studie besteht aus zwei Teilen, also ›Tödliche Kindesmißhandlung (durch physische Gewalteinwirkung) in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum vom 1.1.1985–2.10.1990‹ und ›Tödliche Kindesmißhandlung (durch psychische Gewalteinwirkung) in der DDR im Zeitraum vom 1.1.1985–2.10.1990‹. Das waren multizentrische Studien, an denen eben die
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