Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
einen Container reingesprungen, muß ich schon sagen – ich hätte das körperlich gar nicht mehr drauf. Ich stand draußen. Es war eine Bäckereikette. Das Personal kam raus mit den Sachen zum Wegwerfen. Die waren noch warm! Die waren nicht verbrannt und nichts! Die waren in Ordnung! Das kippten sie alles in den Container rein. Die drinnen drückten sich an die Wand und packten nur noch ein. Aber man hat uns natürlich bemerkt, und die von der Bäckerei schimpften erst, ich bin aber dann hingegangen und habe denen alles erklärt, daß wir also vom Umsonstladen sind und ein Treffen haben; ich habe ihnen auch so einen Flyer von uns gegeben, sie auch eingeladen, mal in den Laden zu kommen. Die waren direkt ein Stück sprachlos. Dann haben wir tütenweise gekriegt. Sie kamen immer wieder raus mit Körben voll Brötchen, Brot, Schrippen, Kuchen, einfach alles. Ich war entsetzt, wieviel da weggeworfen wird, normalerweise, man bekommt eine Wut bei dem Gedanken. Es war für mich ein gutes Erlebnis, erstens, gegen was zu verstoßen, was man nicht macht, zweitens, aus dem Container was zu essen, drittens, die Gespräche mit den Leuten dort. Wir hatten es ja vorher mit der ›Berliner Tafel‹ versucht, ob wir von denen was bekommen können für das Treffen. Erst sah es positiv aus, dann haben sie uns plötzlich, nach wochenlangem Warten, hängen lassen, weil wir kein soziales Projekt sind und keine Bedürftigen versorgen. Das sind eben deren Vorgaben, und die akzeptieren wir natürlich. Wir haben ja schließlich auch die Vorgabe, kein caritatives Projekt zu sein.«
Es klopft. Chris, eine junge Kommunikationswissenschaftlerin wird eingelassen. Sie gehört zum Gründungskollektiv und will uns Fragen zur Geschichte des Projektes beantworten. Wenig später kommt auch Bernd zum Dienst, er wird sich, während wir bei vollem Betrieb das Gespräch weiterführen, um die Besucher kümmern. Dann wird geöffnet, und die ersten Interessenten betreten den Raum. Die meisten gehen selbstsicher zu den Regalen. Eine ältere Frau, gut gekleidet, mit hochgestecktem Haar, verweilt länger in der Kinderecke und geht dann nach hinten zur Kleidung. Eine junge Frau in Jeans und Dufflecoat schaut die Platten durch. Etwas mittellos wirkt eine Großmutter mit etwa achtjährigem Knaben, die sich in der Kinderecke umschaut. Eine studentisch aussehende Frau hat sich für einen Toaster entschieden und geht sogleich. Eine sportlich recht teuer gekleidete Frau kommt grüßend herein, verbindlich lächelnd bringt sie zwei Kartenspiele in Lederetuis, Gläser und einen Porzellanleuchter. Sie geht, ohne etwas angeschaut zu haben. Während uns Chris ausführlich die Gründungsgeschichte des Ladens erzählt, kommt eine ältere, resolute Frau und erklärt, sie habe eine ganze Lastwagenladung Briketts abzugeben, wegen eines Heizungseinbaus. Die Ladung muß abgeholt werden. Bernd notiert die Adresse, die irgendwo am östlichen Stadtrand Berlins ist, und sagt, man müsse das erst organisieren und werde sich melden. »Aber bald!« ruft die Frau und eilt davon.
Chris erzählt, daß die Existenz des Umsonstladens in Gefahr sei. Das Haus, so erfahren wir, ist in den 90er Jahren Objekt von Immobilienspekulanten geworden. Vorderhaus, Hinterhaus und Seitenflügel. Massive Entmietungsaktionen waren die Folge, Abfindungen wurden betrügerisch angeboten, aber nie bezahlt, Schikanen praktiziert, wie Kappung der Wasserleitungen, Auswechseln der Schlösser. Selbst die ehemalige Besitzerin, eine alte Frau, wurde um ihr Geld betrogen. Die Firma scheint verschwunden und pleite, und die Bank, der sie den Kredit für den Hauskauf schuldig ist, schreitet jetzt zur Zwangsversteigerung. Mindestgebot sind 200000 Euro, 440000 Euro betragen die Schulden. Die Schulden werden quasi mitersteigert. Nun hoffen hier alle, daß sich keiner für das Objekt interessiert, und daß das Projekt Unterstützug findet, falls sich doch ein Interessent findet. Vom Bezirk erwartet man keinerlei Hilfe. Mehr als die Auszeichnung mit dem »Umweltpreis 2002/2003« durch das Bezirksamt Mitte könne das Umsonstladen-Projekt nicht erhoffen.
Chris wendet sich einem älteren, gutgekleideten Herrn zu, Etwas verlegen überreicht er eine Kamera und ein originalverpacktes Beschriftungsgerät. Gabi sagt leise: »Die älteren Leute sind skeptisch, meine Eltern verstehn das hier ja auch nicht. Sie haben einen Bericht im Fernsehen gesehen über den Umsonstladen, und meine Mutter saß da und hat zu meinem Vater gesagt:
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