Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Kindsleichen aus der Elbe, oder sie werden sonstwo aufgefunden. Zahlenmäßig ist das Verhältnis zwischen dieser und der von uns untersuchten Gruppe so, daß mehr Kinder ausgesetzt als zu Tode geprügelt werden, würde ich mal so vermuten.« Das Telefon klingelt, Frau Dr. Böhm blickt, wie bei den vergangenen Malen, aufs Display. Diesmal nimmt sie ab und sagt: »Ja, ich komme.« Sie erklärt uns mit entschuldigendem Lächeln: »Ich muß jetzt mal schnell runter in den Seziersaal und eine Abnahme machen, bin aber gleich wieder da.«
Einige Zeit später kommt sie zurück, setzt sich hinter ihren Schreibtisch und sagt, während sie sich dem Computer zuwendet, um etwas für uns aufzurufen: »Das mußte sein! In der Gerichtsmedizin ist es so, daß immer zwei obduzieren – bei klinischen Sektionen macht das nur einer –, aber wir Rechtsmediziner müssen gemeinsam zu einem Urteil kommen. Bei Meinungsverschiedenheiten müßten wir im Prinzip so lange diskutieren, bis wir einer Meinung sind. Letzten Endes ist es im Streitfall dann aber so, daß das, was die Oberärztin sagt, und wofür sie ihre Unterschriften geben muß, das ist dann die ›gemeinsame Meinung‹ – wie überall! In der Regel gibt es aber gar keine unterschiedlichen Meinungen.«
Sie hat das Gesuchte im Computer gefunden. »So, das ist ein Vortrag zu unserer Studie zur Kindesmißhandlung, den ich voriges Jahr vor dem Arbeitskreis an der Uni gehalten habe. Diesen Arbeitskreis gibt es, glaube ich, seit mehr als sechs Jahren. Er heißt ›Arbeitskreis für Kindesmißhandlung‹ und wird geleitet von einer Kinderpsychologin, Dr. Petra Nickel, von der Uni-Kinderklinik Leipzig. Das ist sozusagen eine Privatinitiative hier in Leipzig, zur besseren Vorbeugung. Und zweimal im Jahr werden eben auch Vorträge gehalten von Experten, vor Kinderärzten, Psychologen, Jugendamtsmitarbeiterinnen usw. Im Prinzip geht es dabei um die Verbesserung der Früherkennung, damit den Kindern rascher und rechtzeitig geholfen werden kann. In der Praxis hat sich das dann so entwickelt, daß die Kindergärtnerin oder der Kinderarzt bei sichtbaren verdächtigen Verletzungen usw. das Kind dann auch weiterleiten, oder es wird hier bei uns vorgestellt und von uns untersucht. Viele denken ja, bei der Gerichtsmedizin, da geht es um Tote, um Klärung der Todesursachen. Das macht grade noch zehn Prozent unserer Arbeit aus. Maximum! Wir machen viel mehr Untersuchungen an Lebenden, an solchen Personen z. B, die Verkehrsunfälle hatten, an Erwachsenen, die geschlagen wurden, an Frauen, die vergewaltigt wurden; wir untersuchen auch die Täter, auch Messerstechereien usw. Und im Verdachtsfall auf Kindesmißhandlung schauen wir eben auch die Kinder an. Das haben wir uns in Leipzig selber aufgebaut, hier in der Rechtsmedizin, zusammen mit den Kollegen vom Arbeitskreis. Denn wir Rechtsmediziner haben einfach die meisten Erfahrungen damit, wie man z. B. eine Sturzverletzung von einer Mißhandlung unterscheidet. Und wenn wir den Verdacht dann bestätigen, dann beraten wir auch gemeinsam mit den Kollegen über Hilfsangebote. Dann sagen die Kinderärzte, o. k., wir gucken uns die jetzt jede Woche an, später schaun wir die Kinder zweimal im Monat an, oder wir rufen eben das Jugendamt. Das kommt alles auf den Schweregrad an. Wir nehmen das sehr genau, weil wir ja vorbeugen wollen. Wenn wir das Kind dann bei uns auf dem Tisch haben, ist es ja zu spät. Bei den Beratungen sind auch Psychologen mit dabei. Wir sagen, wie schwer die Verletzungen sind, die Kollegen erwägen, wie ist der familiäre und sonstige Hintergrund, wie ist die Prognose, was ist zu tun. Das ist für uns, Kinderärzte und Rechtsmediziner, die Stufenleiter, die wir gehen: ein Mißhandlungsverdacht. Wir diagnostizieren sorgfältig. Bestätigen oder lehnen ab. Nicht jeder Verdacht auf Mißhandlung ist auch wirklich eine. Dann machen wir die Hilfsangebote und Kontrolluntersuchungen. Also, ich muß sagen, wir haben das hier in Leipzig ganz gut organisiert. Es hat sich viel verbessert,
Das schreiben wir uns schon auch auf die Fahnen, weil wir eben relativ viel an Antigewaltarbeit gemacht haben. Das Problem ist nur, daß es eben keinen Paragraphen gibt, der sagt, bei Kindesmißhandlung passiert das und das. Es werden immer verschiedene andere Paragraphen herangezogen, z. B. Körperverletzung Körperverletzung mit Todesfolge, Mißhandlung von Schutzbefohlenen usw. Aber das ist die Angelegenheit der Juristen. Wir können nur sagen,
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