Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Fünf Monate später schrieb das Jugendamt ans Familiengericht, daß Frau K., die Mutter, nicht, wie versprochen, Kontakt aufnahm und auch die wöchentlichen Arztbesuche zur Gewichtsüberwachung nicht wahrgenommen hat. Das Jugendamt machte aber Hausbesuche und fand den Jungen ›wohlauf‹. Als das Kind fünfzehn Monate alt und grade wieder aus dem Krankenhaus gesund nach Hause entlassen worden war, schrieb das Jugendamt dem Familiengericht, daß die Mutter, der inzwischen ›Hilfe zur Erziehung gewährt wurde‹, sich zwar kontrolliert fühlt, aber die regelmäßigen Arztbesuche wahrnehme, der Junge entwickle sich ›stabil und positiv‹.«
Auf dem Bildschirm erscheinen Bilder des nunmehr siebzehn Monate alten C., es sind so eine Art »Tatortfotos«. Tatort ist der Körper des Kindes, dessen Verletzungsspuren fotografisch festgehalten wurden, nach einer Anzeige der behandelnden Kinderärzte bei der Polizei. »Also, das Kind hat ›mehrzeitige‹, d. h. verschieden alte Hämatome. Auch hier am Kopf, das sieht ›geformt‹ aus, also, wenn Gegenstände zum Schlagen benutzt werden, dann bildet sich das richtig auf der Haut ab, wie ein Relief. Und hier am Hals Gewalteinwirkung. Gewalteinwirkung auch am Po, an einer Stelle, da kommt bei Stürzen nie was hin! Das hier am Oberschenkel sieht aus wie eine Bißspur, die ist schon ein paar Tage älter. Die Kinderärzte haben sorgfältig untersucht und in ihrem Bericht an die Polizei geschrieben, daß es sich hier nicht um Spiel- oder Hausunfälle handelt. Aber eine ›gezielte Gewaltanwendung‹ war nicht zu beweisen, weil die Mutter behauptet hat, es seien ›Sturzverletzungen‹. Dennoch ist dann verfügt worden, daß C. in eine Pflegefamilie aufgenommen wird. Mit achtzehn Monaten war das, und fünf Monate blieb er dort. Die Pflegemutter sagte in einer späteren zeugenschaftlichen Vernehmung aus: ›Das Kind hatte sich prächtig entwickelt, war auch nie krank gewesen, wurde an den Topf gewöhnt, konnte sitzen, laufen und machte erste Sprachversuche …‹
Dann hat die Gerichtshilfe mit der Kindesmutter ein Gespräch geführt, und dabei hat die Mutter um Rückgabe ihres Kindes gebeten. Sie und ihr Lebensgefährte ›wünschen sich nichts sehnlicher, als C. wieder in ihrem Haushalt versorgen zu dürfen …‹, protokollierte die Gerichtshilfe und schätzte auf Grund des Gespräches ›… die gegenwärtige Situation als unbedenklich und positiv für die Wiedereingliederung des Kindes C. in die Familie ein …‹, wichtig sei eine rasche Entscheidung, ›… um endlich Ruhe und Geborgenheit ins Leben dieses Kindes einziehen zu lassen …‹. Das ist sehr emotional, ja. Oft geht es sehr emotional zu, die Mütter weinen, versprechen alles bei solchen Gesprächen. Und der Familienrichter sagt: Na ja, sie wird jetzt alles besser machen.
Es gibt Berichte, die sind ganz sachlich verfaßt. Ich bin auch Gutachter und schreibe viele Berichte, ich weiß genau, wie ich was schreiben muß, um Wirkung zu erzielen. Ganz klarer Fall. Das Kind wurde also aus der Pflegefamilie auf Beschluß wieder rausgenommen und zur Mutter und ihrem Lebensgefährten gegeben, mit knapp zwei Jahren. Es besuchte auch eine Kindereinrichtung, hatte aber bereits etwa einen Monat später mehrere Krampfanfälle, es hatte Hämatome, war angeblich aus dem Bett gefallen. Zwei Monate später war eine erneute stationäre Aufnahme notwendig. Das war am 1.1.1998. Die Krankenhausärztin schrieb ins Aufnahmebuch: ›Knapp zweieinhalbjähriges KK kommt in dürftigstem, abgemagertem Zustand, kalt, voller Hämatome, exsikkiert (ausgetrocknet, Anm. G. G.) zur Aufnahme. Meines Erachtens liegt extreme Kindesvernachlässigung vor. Kind ist in aller Beziehung retardiert. Trinkt hier gierig wie ein Loch, schreit dabei immer schrill ›haben‹.‹ So also der Eindruck der Ärztin. In der Nacht gab es dann eine Zustandsverschlechterung. C. kam auf die Intensivstation. Dort ist er dann am Nachmittag des 5.1.1998 verstorben.« Auf dem Computerbildschirm ist der magere tote Kinderkörper zu sehen, daneben das Sektionsergebnis. U. a. steht da: Beginnende herdförmige Lungenentzündung. Todesart: natürlich. »Also, natürlicher Tod«, erklärt Frau Dr. Böhm, »das bedeutet, aus krankhafter Ursache verstorben. So geht es dann in die Todesursachenstatistik ein. Normalerweise wäre der Fall ›weg‹. Er lief am gerichtsmedizinischen Institut aber als Mißhandlung; die wurde bei der Sektion ja festgestellt, alte Unterblutungen
Weitere Kostenlose Bücher