Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
dieses Kind ist mißhandelt worden, es zeigt Zeichen wiederholter Gewaltanwendung. Das sind z. B. bestimmte Narben oder ältere Hämatome – Sie finden bei mißhandelten Kindern oft frische und alte Hämatome gleichzeitig, manchmal Knochenbrüche, die schlecht verheilt sind, also nicht behandelt wurden, und solche Sachen – und das steht dann natürlich im Widerspruch zu den Erklärungen der Eltern. Die bringen ja nicht ihr Kind und sagen, wir haben es mißhandelt, sondern sie erzählen, es sei vom Wickeltisch gefallen, hat sich gestoßen usw., und dann muß man eben sagen, das stimmt nicht, und weshalb das nicht stimmt.
Unser Leitsymptom ist, daß es meist eine ›Mehrzeitigkeit‹ gibt, also auch die Spuren der alten Gewalteinwirkungen. Und es gibt einfach Regionen am Körper, da muß man sagen, die Verletzungen sind nicht durch einen Sturz, sondern durch einen Schlag verursacht worden. Oder beim ›Schütteltrauma‹, das kommt zustande, wenn man ein Baby schüttelt, das seinen Kopf noch nicht selber halten kann. Das kommt häufiger vor, als bekannt ist. Z. B. das Kind schreit und schreit, die Eltern wollen schlafen oder fernsehen, und einer von beiden nimmt dann das Kind an den Oberarmen, hebt es hoch und schüttelt es, um es einzuschüchtern und zur Ruhe zu bringen. Die Folge ist, es reißen die Venen zwischen Gehirn und Schädeldecke, dadurch tritt dann Blut aus, der Hirndruck steigt durch die Hirnblutung, dem Kind wird schlecht, vor Schmerz wird es bewußtlos. Die Hälfte der Kinder sterben daran. Die andere Hälfte überlebt, bleibt aber geschädigt. Es gibt zwar auch äußere Zeichen nach dieser Mißhandlung, aber wenn der Arzt, der den Tod feststellen soll, da so ein vier oder fünf Monate altes Baby vor sich liegen hat, dann kann ihm das trotzdem bei der Leichenschau entgehen. Und da eben nur noch etwa fünf Prozent aller – jetzt egal, an welcher Todesursache – jährlich verstorbenen Kinder obduziert werden, geht eben auch so ein Fall z. B. als ›plötzlicher Säuglingstod‹ durch und kommt als solcher in die Statistik. Denn die Totenscheindiagnosen – von denen wir ja wissen, daß 40 Prozent davon falsch sind – sind die Grundlage für die Statistik, und die statistischen Zahlen sind dann wiederum Grundlage für andere Studien, die dann auch alle falsch sind und so fort. Daran sieht man auch mal, wie wertvoll bzw. wie wertlos eigentlich so eine Statistik ist. Deshalb erfassen wir in unserer Studie ja auch nur die eindeutigen Fälle aus den Rechtsmedizinischen Instituten.
Also, wir umfassen das Hellfeld, das wir von den Rechtsmedizinischen Instituten bekommen, und zwar möglichst das komplette, und für die kriminologischen Aspekte, Dunkelfeldforschung usw., da haben uns Experten von außerhalb ihre Hilfe zugesagt. Die Daten sind unheimlich komplex – es reicht ja nicht, wenn wir wissen, wie viele Fälle sind wo aufgetreten, wie alt waren die Kinder, waren es mehr Jungen oder Mädchen, wir möchten auch alles andere wissen, was noch dazugehört, und natürlich auch den sozialen Kontext. Waren es Kinder aus Risikofamilien oder ›normale‹ Kinder. Wie waren die Eltern bestallt? Da kommt also jetzt schon zum Vorschein, daß es sich nicht wirklich durch die gesamten Schichten durchzieht, gleichförmig. Zwar kommt es überall vor, aber es sind jedenfalls nicht so viele tödliche Kindesmißhandlungen in der Oberschicht wie in der Unterschicht.«
Der Preßlufthammer hat seine Arbeit eingestellt. Frau Dr. Böhm sagt, begleitet vom Klingeln des Telefons, das sie ignoriert: »Damit das nicht so abstrakt bleibt, will ich Ihnen an einem Fallbeispiel noch einiges erklären.« Auf dem Bildschirm ist nun ein magerer nackter Säugling zu sehen. »Das ist ein Fall aus unserer Studie, ein sehr typischer Fall: C., im Oktober 1995 geboren. Ist Frühgeburt gewesen. Was übrigens auch ein gewisses Risiko ist, mißhandelt zu werden, geschüttelt zu werden usw., auch chronisch kranke Kinder und behinderte Kinder haben ein höheres Risiko, weil sie auch mehr Arbeit machen. Ein neuer Lebensgefährte erhöht auch das Risiko.« Der Preßlufthammer setzt wieder ein. »Hier ist C. fünf Monate alt und von der Kinderärztin ins Krankenhaus eingewiesen worden – gegen den ausdrücklichen Wunsch der Mutter –, und der Krankenhausarzt schrieb in einer Stellungnahme fürs Jugendamt u. a.: ›Erbarmungswürdiger Zustand … länger andauernder Hungerzustand …‹. Nach dem Aufpäppeln wurde C. entlassen.
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