Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
›Guck mal, Adolf, das ist doch das, wo Gabi immer hinrennt.‹ Ich kam auch vor im Bericht, und sie sagten: ›Da ist sie ja!‹ Sie hatten eine Menge rumzunörgeln hinterher, fragten, wie ich hier klarkomme mit den bemalten Wänden, ob denn die Sachen gereinigt sind und daß es nicht grade sauber wirkte, und: ›Wer ist denn der Chef? Das ist wohl der Hans?!‹ Ich sagte: ›Nein, bei uns gibt’s keinen Chef, wir machen es gemeinsam.‹ Und dann dieser Gedanke, das Geld abzuschaffen, der ist für sie überhaupt nicht nachvollziehbar. Gut, als DDR-Bürger, geschult am Kommunismus, wissen sie natürlich, daß man dem Kapitalismus die Stirn bieten muß – aber doch nicht so! Wer arbeitet, der stellt was dar, und wer gutes Geld verdient, der ist auch was. Das ist einfach so drin in den Köpfen. Wir gehörten zu DDR-Zeiten ja zu denen … Also, meine Eltern haben gut verdient. Mein Vater war NVA-Offizier, meine Mutter Lehrerin. Durch den Beruf meines Vaters sind wir viel umgezogen, immer dahin, wo die Armee war natürlich. Wir haben viele Jahre in Prora gewohnt, oben an der Ostsee … Ja, genau, das ist da, wo diese gigantische ehemalige Nazi-Ferienanlage ist, fast fünf Kilometer lang ist der Komplex, ich hab’ gehört, das ist das längste Bauwerk Europas. Ein Teil sind ja Ruinen. Die anderen Blöcke wurden genutzt. Zu DDR-Zeiten war da NVA drin, das ganze Gelände war militärisches Sperrgebiet. Aber der lange Strand bis Binz war ja zugänglich.« Wir erzählen, daß unlängst ein fast achtzig Hektar großer Teil dieses Nazi-Monuments vom Bundesvermögensamt versteigert wurde bei einer Grundstücksauktion, an einen Käufer, der unbekannt bleiben wollte. Sie schaut erstaunt und sagt: »Ach!«, und fährt dann fort: »Wir haben dort viel gespielt, ich habe eine schöne Kindheit verbracht, muß ich sagen. Ich habe noch vier Geschwister. Wir sind wohlbehütet, aber sehr autoritär erzogen worden. Ich habe viele Jahre gegen meine Eltern gekämpft, weil ich sie unmöglich fand, aber ich habe jetzt meinen Frieden mit ihnen gemacht. Es ist eben so, daß sie nur das weitergeben konnten, was sie selber erfahren haben. Auch bei mir mußte ja erst mal ein Bewußtwerdungsprozeß in Gang gesetzt werden, das ist mühsam und auch schmerzlich manchmal. Aber ich muß sagen, ich kann sie jetzt auch weitergeben an andere, meine Erfahrungen.« Ein junger Mann mit Kapuzenshirt und Ring im Ohr zeigt ein schönes hölzernes Schachspiel und ein Buch im Vorbeigehn vor und verläßt anscheinend sehr zufrieden den Laden.
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Inzwischen wurde das besetzte Haus in der Brunnenstraße samt dem Umsonstladen polizeilich geräumt, und auch der zweimalige Umzug in besetzte Häuser endete mit polizeilicher Räumung.
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KINDESMISSHANDLUNG
RECHTSMEDIZINERIN
Ulrike Böhm, Dr. med., Fachärztin f. Rechtsmedizin, Oberärztin f. d. Bereich Morphologie am Institut f. Rechtsmedizin der Universität Leipzig. Einschulung 1971 in d. 128. Polytechnischen Oberschule (spätere Egon-Erwin-Kisch-Schule) in Leipzig. 1986 Abitur. Ausbildung u. Arbeit als Röntgenassistentin. 1990 Studium d. Elektrotechnik a. d. Uni Leipzig; 1993–1999 Studium der Humanmedizin an der Universität Leipzig; Arbeit am Institut für Rechtsmedizin. Promotion 2001. Frau Dr. Böhm ist Mitglied d. Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin u. Verfasserin zahlreicher Beiträge i. wissensch. Zeitschriften u. Büchern. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Kindesmißhandlung (u. Bildgebung i. d. Forensik), ihr Forschungsprojekt in Planung: »Tödliche Kindesmißhandlung u. -vernachlässigung in der Bundesrepublik Deutschland vom Jahr 2000–2010« (als Fortsetzung d. derzeit laufenden Studie f. d. Jahre 1990–1999). Ulrike Böhm wurde 1964 in der DDR in Leipzig geboren, ihr Vater war Ingenieur, ihre Mutter Krankenschwester. Sie selbst ist Mutter dreier Kinder und getrennt lebend.
Züchtigung, züchtig, Zucht, ziehen und Erziehung sind engstens verwandt in der Wortbedeutung. Das Recht auf die Ausübung des väterlichen Züchtigungsrechtes (das bis etwa 1929 auch die Züchtigung der Ehefrau ganz selbstverständlich mit einschloß) galt lange Zeit als unantastbar. Es wurde zwar 1958 aus unserem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen, aber nicht zugunsten einer gewaltfreien Kindererziehung, sondern weil es – da es dem Vater vorbehalten war – gegen den Gleichheitsgrundsatz verstieß. Ein Züchtigungsverbot wurde nicht ins Gesetz aufgenommen, das kam erst 42 Jahre später. Bis dahin
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