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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Absprache mit der Klinik, mit dem Prosektor, mir sozusagen das Organ selber entnehmen, das vielleicht irgendeine seltene Auffälligkeit oder Erkrankung hat. Also, ich weiß so ungefähr über den Bestand von uns Bescheid, weiß, was fehlt, was nicht. Wenn die in der Sektion z. B. sagen, wir haben eine tolle Leberzirrhose, dann winke ich ab. Wir haben schon Unmengen aus der DDR-Zeit. Alzheimer und so was, das ist rar. Oder hier, was ganz anderes, die Katze, das Herz und die Lungenscheibe, Tierpräparate aus dem ehemaligen Reichsgesundheitsamt in Dahlem. In der Virchowschen Sammlung war ja auch einiges an Tierpräparaten, da läßt sich z. B. mal eine Tuberkulose des Menschen der beim Tier gegenüberstellen, oder wir leihen uns auch mal ein gesundes Vergleichsorgan. Ich verbringe, das werden Sie nachher sehen, auch viel Zeit mit dem Suchen, weil die Gläser aus Platzgründen so eng gestellt wurden, daß die Aufschriften nicht zu sehen sind, da muß ich mich dann durcharbeiten, wir haben allein 1000 Herzpräparate. Ich denke, wir machen jetzt einen kleinen Rundgang, und ich zeige Ihnen alles zur besseren Vorstellung.«
    Sie zeigt uns den neben ihrem Arbeitsraum liegenden Sektionssaal. Er ist leer, ähnelt dem ihren, riecht aber nach Desinfektionsmittel. Die Gummischuhe sind säuberlich aufgereiht. Daneben liegt der Sektionshörsal, überraschend klein, mit steil ansteigenden halbrunden Sitzreihen. Zu Füßen steht wie ein sakraler Opferaltar ein blitzblanker, verchromter drehbarer Sektionstisch mit OP-Lampe. Dahinter eine Tafel. »Hier findet auch die ›Klinikvorstellung‹ statt«, erklärt Frau Widulin, »es werden dann Organschalen auf den Tisch gestellt, pro Organ eine Schale. Die Kliniker stehen hier, die Pathologen gegenüber, und dann wird der Fall durchgesprochen.« Beim Hinausgehen fällt mein Blick durch das einzig verbliebere Fenster aufs Hafenbecken der Spree. Bis 1989 verlief dort die Mauer. Wir gehen die Treppe hinunter. »So. Das ist jetzt unser Leichenkeller«, sagt Navena Widulin und öffnet eine Tür. »Die Leichen liegen bei vier Grad in drei Etagen hier rechts im Kühlraum.« Sie zieht eine der Bahren aus der mittleren Etage halb heraus. Füße, Beine und Windelhose eines verstorbenen alten Mannes werden sichtbar. Das Neonlicht fällt durch die Öffnung ins Halbdunkel des Kühlraumes, es ist zu erkennen, daß auch noch mehrere andere Bahren belegt sind. Erstaunlich, denke ich, wie schnell und präzise das Auge sein Blickfeld abtasten und im Gehirn zu einem »Befund« werden lassen kann. »Diese sind noch nicht geöffnet, wir haben ja diese Woche Ärztestreik«, sagt Frau Widulin und schiebt den Toten zurück. Ich frage, weshalb die Toten Windeln tragen. »Windeln tragen sie, weil sie inkontinent waren«, sagt Navena Widulin. Ich frage deutlicher. Weshalb sie die Windeln noch tragen. Ob die Toten denn nicht mehr, wie es einmal auch in Krankenhäusern üblich war, gewaschen und mit einem Leichentuch bedeckt werden, bevor man sie in die Leichenhalle bringt. »Nein, nein, das ist vorbei, das ist auch ein Opfer der Sparmaßnahmen. Wenn man Glück hat, wird der Kiefer hochgebunden. Die Augen werden natürlich geschlossen bei den Toten, die Urinbeutel usw. werden abgestöpselt. Aber die Zugänge die bleiben drin. Wir haben es auch schon gehabt, daß Leichen teilweise mit allerhand Infusionsflaschen ankamen, dann hat man hier natürlich eine halbe Intensivstation zu entsorgen. Aber es ist einfach so, daß die Schwestern so schon alle Hände voll zu tun haben, sie können nicht auch noch Leichen waschen. Der größte Teil der Bestatter sargt die Leichen hier gleich ein, so wie sie sind. Die waschen auch nicht mehr. Also, wenn’s nicht grade Teil von einem Ritual ist, muß eine Leiche ja nicht gewaschen werden, das ist eher was für den Hausgebrauch, wenn ein vertrauliches Verhältnis zu dem Toten da war. Wer allerdings das Geld hat ……Ich habe einen Kollegen in München, der Leichen wiederherstellt nach Unfällen, der hat auch für Königshäuser schon einbalsamiert, auch den Franz Josef Strauß und den Modeschöpfer Moshammer.« Wir verlassen den Leichenkeller und gehen zur nahe liegenden Kapelle.
    »Das ist der ehemalige Abschiednahmeraum, sozusagen, aber nach dem Krieg wurde er Lagerraum für die Präparatesammlung. Mildes Licht erfüllt den schmucklosen Raum, in dem sich auf den robusten Metallregalen Glasgefäß an Glasgefäß reiht. »Also hier stehen etwa drei- bis viertausend. Sie sind nach

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