Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Professor Schnalke, ist ja Mitglied im Arbeitskreis ›Menschliche Präparate in Sammlungen‹, wo es auch sehr gezielt um den Umgang mit Präparaten solcher Herkunft geht. Ich habe in den nächsten Jahren noch damit zu tun, die Sammlung zu archivieren und in eine Datenbank einzufügen, und ich hoffe und vermute eigentlich nicht, daß ich etwas finde.
Wir haben zwei Lagerräume; glücklicherweise bekommen wir bald ein richtiges Depot – bis jetzt stehen die über 9000 Gläser teils in der alten Kapelle des pathologischen Institutes, teils im Präparatekeller, ich zeig’s Ihnen nachher. Das ist alles in einem ziemlich desolaten Zustand und schädigt die Sammlung natürlich, wenn nicht eingegriffen wird. Zu unserem Fundus möchte ich noch sagen, daß wir auch eine Moulagensammlung haben, die sehr stiefmütterlich behandelt wurde all die Jahre, im Schrank übereinandergestapelt lag und teilweise gebrochen ist. Moulagen sind ja sozusagen die Herzensangelegenheit von Professor Schnalke; er hat ein schönes Buch gemacht. In diesem Zusammenhang ergab sich auch der Kontakt zu einer alten, sehr erfahrenen Mouleurin in Dresden, Frau Walther, sie hat sich bereit erklärt, unsere Moulagensammlung zu restaurieren. Das ist ein großer Schatz, ihr Wissen und Können. Ich durfte ihr auch schon über die Schulter gucken und versuche mich selbst etwas einzuarbeiten, aber das braucht natürlich viel Erfahrung, so einen Wachsabguß z. B. eines verkrüppelten Fußes zu restaurieren, zu kolorieren. Sie ist ja eine der wenigen auf der Welt, die das noch können, die noch am Patienten selbst abgeformt hat. Also, die Moulagen gehören zu meiner Aufgabe, und dann – was ja auch der Zweck der Präparatesammlung ist –, es kommen immer wieder Anfragen von anderen Museen und Instituten, die etwas brauchen, dann gehe ich ins Depot und muß z. B. ›Nieren bei Cholera‹, finden, was bei der Enge oft schwierig ist, und oft muß die Lösung vorher erneuert werden, weil sie verfärbt, getrübt oder geschwunden ist. Und um die alte Lösung auszuschwemmen, muß ich das Präparat erst mal fließend wässern, so wie in diesem Fall«, sie zeigt auf das Kind im Abflußbecken. »Danach hält es dann aber über Jahrzehnte. Und hier«, sie zeigt auf ein zierliches, schneeweißes Maulwurfsskelett, »dafür habe ich mir bei einer Präparatorentagung ein paar Speckkäfer besorgt, die halte ich da unter dem Tisch in diesem kleinen Terrarium, sie haben gute Kiefer und leisten hervorragende Arbeit bei der Mazeration. Wenn man aufpaßt, daß sie nicht an die Bänder und Knochen gehen, kann man ein hervorragendes Bänderskelett bekommen, auch die Zähne bleiben fest sitzen, während sie bei flüssiger Mazeration ausfallen. Und was noch so in meinen Arbeitsalltag fällt, ist das Problem, daß manche der alten Präparate von 1888 oder 1902 keine Diagnose haben bzw. eine, die heute nicht mehr stimmt. Ich hab jetzt z. B. einen Kopf dort in dem Eimer, mit der Diagnose: vermutlich Lepra Leontina. Das ›Löwenantlitz‹ ist typisch bei Lepraerkrankungen. Ich habe Kontakt aufgenommen zu einem Professor in Hamburg, vom Tropeninstitut, der möchte das gerne histologisch untersuchen.« Wir möchten das »Löwenhaupt« sehen. Sie streift Gummihandschuhe über, öffnet den Deckel des schwarzen Plastikeimers und hebt vorsichtig einen lehmbraunen Männerkopf mit kahler Schädeldecke aus dem Wasserbad, die Haut ist zerklüftet, Kinn, Backen und Stirn sind überzogen mit Wülsten und Knoten. Die geöffneten Augen scheinen trüb herauszuschauen, der Mund ist ein wenig geöffnet. Sie senkt den von seiner fernen Leidensgeschichte gezeichneten Kopf wieder in die Flüssigkeit und schließt den Deckel. »Die Molekularpathologie hat natürlich phantastische Möglichkeiten, auch in so einem Fall.
Also, jedes Präparat hat sozusagen eine nachvollziehbare Herkunft. Früher waren das die Sektionsbücher und Protokolle, heute haben wir, seit zehn Jahren etwa, den Sektionsantrag. Der begleitet die Leiche, und da gibt es eine große Spalte, in der die Kliniker den Krankheitsverlauf darstellen und auch auf eventuelle Infektionsrisiken hinweisen wie Hepatitis, Aids, TBC z. B. Hier in der Charité ist der Kontakt zwischen Pathologie und Klinik sehr gut. Die Kliniker sind natürlich auch an einer Qualitätskontrolle ihrer Befunde interessiert. Ich selbst habe durch meine frühere Tätigkeit auch einen guten Kontakt zum Sektionssaal. Das ist mein Plus, sozusagen; ich könnte nach
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