Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
Vom Netzwerk:
Schiffahrtskanals. 1899 wurde der Museumsbau feierlich eröffnet; er wurde zum Ort der Popularisierung von Wissenschaft zum Zweck der Volksaufklärung, das war neu. Auf zwei Etagen zeigte eine Schausammlung mit Feucht- und Trockenpräparaten anschaulich das Spektrum typischer Krankheitsbilder, nebst Warnungen und Vorkehrungsmaßnahmen. Auf den übrigen Etagen lagerten mehr als 20000 weitere Präparate dichtgedrängt. Die Nachfolger von Virchow erweiterten die Sammlung, u. a. auch durch die geraubten menschlichen Überreste des ersten deutschen Völkermordes an den Hereros in Afrika. Und durch Köpfe, Augen, Hirne und andere Körperteile von Opfern der Verbrechen des Nationalsozialismus. Kistenweise wurde Material zur sogenannten Rasseforschung u. a. vom Institut für Rassenbiologie eingelagert.
    Einige Präparate Virchows gingen durch einen Brandbombenschaden im Zweiten Weltkrieg verloren, Der übrige Bestand konnte aber durch begünstigendes Sektionsrecht der DDR rasch aufgefüllt werden, so daß heute wieder mehr als 10000 Objekte, inklusive der alten Virchowschen Bestände, existieren. Etwa 700 dieser Objekte wurden der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht und befinden sich im 1998 wiedereröffneten Gebäude, das nun Medizinhistorisches Museum heißt. Seit 2002, zu Virchows 100. Todestag, wird die an sein Konzept angelehnte neue Dauerausstellung in Virchows original eisernen Vitrinenschränken präsentiert.
    Navena Widulins Arbeitsraum liegt im Institut für Pathologie, einem Charité-typischen roten Backsteinbau, der sich unmittelbar ans Museum anschließt, fünfstöckig ist und heute »Rudolf-Virchow-Haus« heißt. Die Hüterin der Sammlung empfängt uns gut gelaunt, zeigt Elisabeth im kleinen Vorraum ihre stattliche Gallensteinsammlung (ich gehe lieber schnell vorbei, weil ich selbst welche habe) und bittet uns dann in ihren Arbeitsraum, der hoch, groß und sehr hell ist. Er ist bis zu halber Höhe weiß gekachelt und war vormals Seziersaal. Wir legen unsere Mäntel mangels anderer Ablagen auf einen der Seziertische aus hellem Marmor und blicken uns um, während unsere Gastgeberin telefoniert. In den Wandregalen, auf Kühlschränken, Ablagen und Seziertischen stehen Arbeitsgeräte, Kartons, Ersatzgläser, Plastikbehälter und schöne rechteckige und auch zylindrische Glasgefäße verschiedener Größe, in denen Präparate in ihren bräunlich gewordenen Flüssigkeiten schweben. Halbe Herzen, Speiseröhren, Hirne, eine aufgeschlitzte Ratte und ein Gewirr aus einem kindlichen Körper und Gliedern, das auf den drei Schultern einen gemeinsamen janusgesichtigen Kopf trägt, mit irgendwie empörten Gesichtsausdrücken. Sie alle dämmern ihrer Aufarbeitung entgegen. Ebenso das vor langer Zeit verstorbene, am ganzen Körper verhornte kleine Kind, das im steinernen Abflußbecken eines der Seziertische ausgestreckt im Wasser liegt wie zum Bade.
    »Ehemaliger Sektionssaal«, erklärt Frau Widulin, »nicht zu Virchows Zeiten, das Haus wurde erst 1906 gebaut, da war er schon tot. Es war alles sehr großzügig konzipiert. Und zu DDR-Zeiten wurden ja wirklich 100 Prozent der Leichen seziert, praktisch jeder, dementsprechend viele Tische brauchte man. Das Recht hat sich aber nach der Wende geändert, und das ging dann schlagartig nach unten. (Das Berliner Sektionsgesetz von 1997 erlaubt Sektion nur, wenn im Behandlungsvertrag zwischen Patient und Krankenhaus zugestimmt wurde, bzw. wenn ein begründeter Ausnahmefall vorliegt. Angehörige haben innerhalb von acht Stunden von 8 bis 22 Uhr ein Widerspruchsrecht. Anm. G. G.) Es war eigentlich ein Glücksfall, wie Sie sehen, ich habe für mein Labor viel Licht, viel Platz, den brauche ich auch.
    Die Sammlung muß ja gepflegt werden und restauriert, die alten Lösungen müssen durch neue ersetzt werden. Das nennt sich Jores eins und zwei. Eins ist die Fixierlösung, zwei die Konservierungslösung, die Endlösung.« Sie sagt es in aller Unschuld. Bei dieser Gelegenheit fragen wir, ob es Präparate aus der NS-Zeit gibt in der Sammlung. »Wir haben das natürlich überprüft und überprüfen es noch, aber in der Regel betrifft es hauptsächlich die anatomischen Institute und Sammlungen, unsere Präparate stammen von natürlich verstorbenen, also an Krankheiten verstorbenen Personen, das kann man an den Sektionsprotokollen nachvollziehen. Also, sie stammen nicht aus einem Unrechtskontext. Daran sind wir auch selber sehr interessiert, unser Direktor, der Medizinhistoriker

Weitere Kostenlose Bücher