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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Organen sortiert, wie Sie sehen. Da hinten sind Nieren, Hirne und Lungen. Vorne steht alles noch ein bißchen durcheinander. Das ist natürlich für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, Wir führen aber z. B. Wissenschaftler in die Depots.« Frau Widulin zeigt Elisabeth im hinteren Teil die schönen eisernen Virchow-Vitrinenschränke, während ich mich in den Anblick der früher als Monstrositäten bezeichneten fehlgebildeten Kinder vertiefe. Sie schweben mit säuglingshaft geballten Fäusten in ihren Gläsern, einem Krankheitsbild zugeordnet. Trotz ihres Zustandes strahlen sie etwas Souveränes, Würdevolles aus. Das trifft für die Kinderköpfe ganz oben im Regal nicht mehr zu. »Hier sind noch ein paar sehr alte Präparate«, höre ich Frau Widulin sagen, »1883, der Kiefer eines Mannes mit Knochenerweichung. Und hier sind welche von 1852, und das ist z. B. ein Originalpräparat, von Virchow selbst beschriftet, ein Uterus mit Scheide, unten sieht man noch die Haare der äußeren Geschlechtsteile. Und was natürlich immer einen hohen Wiedererkennungswert hat, ist ein Gehirn.« Sie zeigt uns ein Glas mit zwei übereinanderliegenden Gehirnschnitten.
    Zum Abschluß gehen wir noch in den Präparatekeller. Er ist nur von außen zu erreichen, über eine von altem Laub bedeckte und vereiste Kellertreppe. Navena Widulin schließt auf. Innen ist es überraschend warm. Der weißgekalkte Gewölbekeller liegt zwei Meter unter Erdniveau und ist gefüllt mit eng stehenden Regalen, zwischen denen sich nur schmale Durchgänge befinden. Ab und zu spendet eine Kugellampe aus Milchglas von oben her etwas Licht, grade genug, um die Aufschriften der Gläser in den oberen Regalen lesen zu können. Hier lagern mehr als 5000 Präparate. Allein 1000 Herzpräparate, 140 davon mit Herzfehlbildungen, Herzinfarkte, es gibt zahllose Tumore aller Art, Darmerkrankungen, Gebärmütter, Hoden und die bereits erwähnten Leberzirrhosen und Fettlebern. Alles, was Organe, Haut und Knochen befallen hat in den vergangenen 150 Jahren und das Leben der ehemals Kranken vorzeitig beendete, ist hier versammelt. Über lange Zeit hinweg kamen für die Gewinnung von Präparaten ja nur die Verstorbenen aus der Unterschicht in Frage, mit ihren spezifischen Krankheiten. Insofern muß man sich vergegenwärtigen, daß es sich hier nicht nur um medizinhistorisch interessante Präparate handelt, sondern auch um Zeugen der Sozialgeschichte.« Das schwarze Klebeband, mit dem bei allen Gläsern der Glasdeckel befestigt ist, erinnert an einen Trauerflor und daran, daß das Präparat ein memento mori ist. »Wir gehen jetzt hier ins Glaslager«, ruft Frau Widulin, »und passen Sie bitte auf, daß sie sich nicht den Kopf stoßen, wie es der Gesundheitsministerin passiert ist, als sie hier durchmarschierte.« Das Glaslager ist ein kleinerer Gewölbekeller mit teilweise aufgegrabenem Fußboden. Schöne alte Gläser aller Größen stehen in einem ziemlichen Durcheinander herum. Bauarbeiter waren hier am Werk und haben einiges zerbrochen. Auf dem Rückweg bleibt Frau Widulin noch mal stehen und hebt ein kleines Glas mit dunklem Inhalt aus dem Regal. Mit »Penis eines Negers« steht auf dem Etikett. »Einfach abgeschnitten und ins Glas gestopft. Hier geht es wirklich nicht mehr nur ums Präparat! Das wäre heute überhaupt nicht mehr tragbar. Das ist auch nicht mit dem Sinn einer pathologischen Sammlung vereinbar, der besteht ja in der Darstellung von Krankheiten und ihren Verlaufsformen.«
    Wieder zurück in ihrem Arbeitsraum, nehmen wir am Seziertisch Platz und bitten, uns noch etwas von ihrem Werdegang zu erzählen. »Es war so: Meine erste Ausbildung als Arbeitshygiene-Inspektorin war mir viel zu staubig, zu trocken. Zufällig fand ich beim Arbeitsamt ein Ausbildungsangebot: ›Assistent bei der Durchführung klinischer Sektionen‹. Das war wie die Berührung mit einem Zauberstab. Ich wußte, das will ich machen. Dann habe ich mit der Ausbildung angefangen, und gleich am zweiten Tag durften wir eine Lehrsektion anschauen. Also, 90 Prozent von uns hatten noch nie ein Leiche gesehen, geschweige denn eine Sektion. Der Oberpräparator hat die Leiche seziert, ich hab’ durch die Finger hingeschaut und war super aufgeregt. Es hing ja alles davon ab. Und es ging gut. Ich war wie erlöst danach. Und dann ging’s gleich am nächsten Tag los. Also, zusehen ist ja was ganz anderes. Nun sollten wir aber selbst Hand anlegen. Das war völlig aufregend. Unsere Ausbilder

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