Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
unangenehm. Aber an den Geruch kann man sich nicht gewöhnen. Er ist immer wieder neu. Der Tod riecht. Das ist ein Geruch, der immer da ist, auch wenn keine Leiche im Haus ist. Wobei, nach fünf Minuten, da riechen Sie es schon gar nicht mehr. Was eigentlich unangenehm ist, sind die Geschichten, die dahinterstehen, manche bleiben im Gedächtnis. Und wenn wir schon nicht ›heilend‹ in dem Sinne tätig sind, so sichern wir doch durch sorgfältige Untersuchung Spuren und Beweise. Es ist unsere Pflicht, die Todesursache festzustellen, und das ist sozusagen das Letzte, was wir für den Toten tun können.«
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LEICHEN IM KELLER
PRÄPARATORIN
» Kein Tag ohne Präparat«
Rudolf Virchow
Navena Widulin, Museumskonservatorin und Präparatorin am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité, Campus Mitte. 1978 Einschulung i. d. Polytechnischen Oberschule Juri Gagarin, 1988 Beendigung der Schule. 1988–1991 Ausbildung z. Arbeitshygiene-Inspektor an d. Medizinischen Fachschule Köthen. 1991–1992 Ausbildung z. medizinischen Sektions- und Präparations-Assistentin (Präparatorin) an d. Lehranstalt d. Krankenhauses Berlin-Neukölln. Seit 1993 Tätigkeit a. d. Charité (i. Bereich Sektion), seit 1998 Konservatorin und Präparatorin (i. Medizinhistorischen Museum). 2000 u. 2001 über d. UNO jeweils f. zwei Monate i. Bosnien (Exhumierung v. Leichen aus Massengräbern z. Klärung v. Kriegsverbrechen u. Beweissicherung f. d. Haager Kriegsverbrechertribunal). Mitglied i. Verband deutscher Präparatoren; im BHID (British Association for Human Identification); im Team v. Deathcare-Embalming Deutschland. Außerdem begeisterte Motocross-Fahrerin (Teilnahme an Rennen). Navena Widulin wurde 1972 i. Cottbus/DDR geboren. Ihre Mutter ist Spediteurin, der Vater u. a. Philosoph u. Dolmetscher. Navena lebt mit ihrem Freund Sven Philipp zusammen, sie haben ein gemeinsames eineinhalbjähriges Kind.
Es weht ein eisiger Wind an diesem Morgen. Dennoch stehen die jungen Ärztinnen und Ärzte der Charité in ihren weißen Kitteln auf den Straßen rund um den Karlsplatz. Sie streiken für bessere Anstellungs- und Arbeitsbedingungen und verteilen Flugblätter. Auf dem Virchow-Denkmal liegt etwas Schnee. Oben auf dem säulenverzierten Sandsteinsockel winden sich seit 1910 zwei muskulöse Männerkörper in einem immerwährenden Ringkampf, Gut und Böse, respektive Tod und Leben. Rudolf Virchow (1821–1902) kam als junger Mediziner hier an die Prosektur und hat mehr als fünfzig Jahre an der Charité verbracht, unterbrochen durch einen sieben Jahre dauernden Aufenthalt in Würzburg, nach strafweiser Entlassung wegen seiner Teilnahme an der 48er Revolution. Nach seiner Rückkehr entfaltete er ein ungeheures Ausmaß an Aktivitäten auf vielerlei Gebieten und wurde weltberühmt, u. a. als Pathologe mit seiner Zellularpathologie. Er verstand sich nun als Reformer, als politischer Naturwissenschaftler, engagierte sich gegen den Krieg und für den sozialmedizinischen Fortschritt, setzte sich als Abgeordneter für den Bau von Krankenhäusern, Obdachlosenheimen, Markthallen und Schlachthöfen ein (von ihm stammt die bis heute praktizierte Trichinenkontrolle), und er trieb die Versorgung der Stadt mit Trinkwasserleitungen und der Kanalisation der Schmutzwasserbeseitigung voran, zur Verbesserung der Hygiene und Seuchenprophylaxe. Er widmete sich auch den Bedingungen, unter denen das Proletariat in Hinterhöfen und Kellerwohnungen gezwungen war zu leben, plädierte für die Errichtung öffentlicher Parkanlagen und Schrebergärten. Bildung, Wohlstand und Freiheit, sagte er, sind die notwendigen Voraussetzungen für die Gesundheit der Bevölkerung. Auch heute wieder sehr aktuell.
Virchow war aber auch ein passionierter Anthropologe, Rasseforscher und vor allem Sammler. Ein Foto von 1896 zeigt ihn in seinem Arbeitszimmer, umgeben von zahlreichen Skeletten, Schädeln und Knochen, stolz wie ein Großwildjäger. Auch die vorgefundene Sammlung pathologisch-anatomischer Präparate vermehrte er geradezu »messihaft« zu derart ausuferndem Umfang – gemäß seinem Motto: Kein Tag ohne Präparat –, daß ein großes Neubau nötig wurde. Er bekam auf Grund seiner Berühmtheit und der Berühmtheit seiner Sammlung ein Institut für Pathologie nach seinen Wünschen, bestehend aus Museums-Lehr-Forschungs-Obduktionsgebäude und Kapelle. Das einzige dieser Art weltweit, Bestandteil eines Krankenhausgeländes, gelegen am Alexanderufer des Berlin-Spandauer
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