Der Augenjäger / Psychothriller
Alina. Ihre Finger waren auf eine Einkerbung in dem letzten Glied der Kette gestoßen, das direkt mit der Öse verbunden war.
»Das ist schon einige Wochen her. Da dachte ich, jetzt bin ich erledigt. Iris brachte mir wie immer das Essen und stolperte aus Versehen über meinen Toiletteneimer. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um ihr die Strumpfmaske vom Kopf zu reißen. Zuvor hatte ich sie ja noch nie gesehen.«
»Hast du es geschafft?«
»Ja, leider. Ich werde nie ihren erstaunten Gesichtsausdruck vergessen. Ich meine, sie sah so …« Nicola suchte nach Worten, »… so
normal
aus. Wie eine Frau, die bei der Post am Schalter sitzt oder so. Ich hätte ein Monster erwartet, mit Hasenscharte, Pickeln und Damenbart, aber da war nichts Abstoßendes in ihrem Gesicht. Sie war sogar geschminkt, kannst du das glauben? Lidschatten, hellbrauner Lippenstift und so, aber nicht wie bei einer Wahnsinnigen gezogen, sondern sorgfältig. Ich dachte noch: ›Scheiße, die Alte macht sich hübsch, bevor sie in den Folterkeller geht, und vielleicht war das mein Fehler. Vielleicht hätt ich einfach nicht so beschissen viel nachdenken und einfach mal losrennen sollen. Mann, das wäre die Gelegenheit gewesen, und ich hab es versaut.«
Vielleicht bekommst du heute noch eine zweite Chance,
dachte Alina, von einem plötzlichen Glücksgefühl beseelt. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt. Die Einkerbung in dem Haken am Ende der Kette war beweglich. Es handelte sich um einen Karabiner!
»Iris flippte jedenfalls völlig aus, hieb mir mit der Handkante gegen den Kehlkopf, dass ich dachte, ich ersticke«, fuhr Nicola fort. »Sie schlug mich mit der Stirn immer wieder gegen die Käfiggitter, so lange, bis ich für eine Weile das Bewusstsein verlor. Ich schwebte irgendwo zwischen Himmel und Hölle, spürte nur noch, wie sie mich an den Haaren über die Kellerfliesen in ein komplett verspiegeltes Zimmer zerrte und dort auf einer Liege festband. Ob du es glaubst oder nicht, aber wenn Suker mir nicht geholfen hätte, wäre ich jetzt tot.«
Nicolas gereizte Stimme wurde vom vielen Sprechen immer rauher, hin und wieder unterbrach ein Hustenanfall ihre Schilderung.
»Iris war wie eine Tollwütige. Sie hat die ganze Zeit auf Suker eingebrüllt: ›Sie hat mich gesehen! Sie hat mein Gesicht gesehen, Zarin! Wir müssen sie töten!‹«
»Wie hat er reagiert?«, fragte Alina. Ihr Herz schlug, als würde sie eine Treppe hinaufrennen. Bislang war es ihr nicht gelungen, den Karabinerhaken so weit nach unten zu drücken, dass er sich von der Öse in der Wand lösen konnte. Sie hatte nur eine freie Hand, ausgerechnet die linke, und ihre klammen Finger rutschten immer wieder an dem Haken ab.
»Suker hat versucht, Iris zu beruhigen. Hat ihr erklärt, dass man etwas so Seltenes wie mich nicht sinnlos opfern darf. Doch Iris hörte gar nicht zu. Sie hatte plötzlich ein Messer in der Hand und brüllte: ›Dann mache ich es eben alleine!‹ Sie hielt das Messer mit beiden Händen, so wie eine Axt, und ich weiß noch, dass ich mich einpisste, weil ich dachte, jetzt ist es aus.
Aber dann schlug er zu. Ich dachte noch ›krass‹, weil es echt richtig laut knackte, als seine Faust gegen ihre Schläfe donnerte. Iris hielt sich beim Fallen an meinem Arm fest und hätte mich mit runtergerissen, wenn ich nicht gefesselt gewesen wäre. Sie sagte kein Wort mehr, keinen Mucks, als hätte er sie mit einer Fernbedienung ausgeschaltet, und ich erinnere mich, wie gut ich mich plötzlich fühlte, als ich in die verdammten Spiegel sah, die da ja überall waren, und Iris mit dem Kopf auf dem Boden neben meiner Liege lag.«
Nicolas Stimme wurde brüchig. »Mann, ich schäme mich so, aber ich kann nicht anders. Seitdem kann ich Suker einfach nicht mehr so sehr hassen wie zuvor, verstehst du das?«
Alina nickte. »Ja, nur zu gut.«
Es liegt in der Natur des Menschen, bis in den Tod hinein an die Kraft des Guten zu glauben, selbst dann, wenn er dem Bösen in seiner reinsten Form begegnet. Indem Suker Iris geschlagen hatte, hatte er bei seinem jungen Opfer die unbegründete Hoffnung genährt, er könnte doch menschliche Züge in sich tragen. Dabei hatte Suker sie nicht verschont, sondern nur gefügig gemacht, aber das konnte Nicola in ihrem traumatisierten Zustand natürlich nicht begreifen.
Wieder versuchte Alina, den Karabinerhaken auszuklinken. Wieder rutschte sie ab.
»Ich meine, ich lag da, gefesselt und eingepisst, aber ich war echt glücklich und dachte die ganze Zeit
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