Der Augenjäger / Psychothriller
überall rein. Ich bin nirgendwo sicher vor ihr, sie hat einen …«
Bei den letzten Worten stockte sie mitten im Satz. Ihr Kopf neigte sich leicht zur Seite, nur für einen Moment, bis sie ihre Körperhaltung wieder korrigierte, so als wäre sie kurz eingenickt.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ja, alles bestens«, sagte sie und lächelte. Es war das erste und gleichzeitig letzte Lächeln, das ich von Tamara sehen sollte. Von da an ging alles sehr schnell.
Während ich noch gar nicht realisiert hatte, was vor meinen Augen geschah, war sie seitlich auf ihr Bett gekippt. Ihre Beine hingen immer noch über der Kante und zitterten unrhythmisch.
»Tamara?«
Ich beugte mich über sie. Als ihre Augen unkontrolliert zur Seite rutschten, riss ich an der Leine für den Notruf am Kopfende des Bettes.
»Tamara, hören Sie mich?«
Schaum war ihr vor den Mund getreten, würgend versuchte sie auszuspucken.
»Ich hab doch gesagt, es ist vorbei«, presste sie unter Krämpfen hervor. »Lassen Sie mich gehen …«
Sie krümmte sich in Embryonalhaltung zusammen und presste sich unter Schmerzen die Faust in den Mund. Als ich sie herausziehen wollte, um ihr das Atmen zu erleichtern, entdeckte ich das kleine Plastiktütchen zwischen ihren Fingern.
»Wieso?«, fragte ich fassungslos.
Hinter mir flog die Tür auf. Licht flutete den Raum, und Tamara schrie auf.
»Was ist hier los?« Roth drängte mich zur Seite. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Nichts«, sagte ich wahrheitsgemäß, und im selben Moment wurde mir klar, weshalb Tamara mich vorhin ins Bad geschickt hatte.
»Sie muss Tabletten geschluckt haben. Schlaftabletten, Betäubungsmittel. Irgendwas, was Sie ihr täglich geben. Sie muss sie unter der Zunge gesammelt haben.«
So wie Iris es ihr gezeigt hat.
Roth sah mich entgeistert an. Rettungssanitäter stürmten in das Zimmer. Ohne Zeit zu verlieren, rollten sie Tamara samt ihrer Liege aus dem Zimmer. Um ihre Augen zu schützen, hatten sie ihr ein Tuch über den Kopf gelegt, mit dem sie schon jetzt wie eine Leiche aussah.
Eine Zeitlang blieb ich reglos in dem Zimmer stehen, das bei voller Beleuchtung und ohne Bett wie eine leere Abstellkammer wirkte.
Dann tastete ich nach dem Brief in meinem Hosenbund und eilte dem Tross mit der sterbenden Frau hinterher.
50. Kapitel
Alina Gregoriev
A aaaah, verdammt, Mann!«
Nicola schrie ihren Schmerz hinaus, lauter als gerechtfertigt, wie Alina fand, doch sie dachte nicht im Traum daran, das Mädchen zu ermahnen. Dadurch würde sie nur noch trotziger werden.
»Sorry, aber ich hab dir ja gesagt, es kann etwas weh tun, wenn ich nicht richtig treffe.«
Sie holte die Kette wieder ein, mit der sie bis vor kurzem noch an der Wand gefesselt gewesen war und die sie eben quer durch den Raum in Richtung von Nicolas OP -Tisch geworfen hatte. Die Hände des Mädchens waren eng am Körper fixiert, weshalb sie schlecht greifen konnte. Alina war es bisher nicht gelungen, die Kette so zu werfen, dass Nicola den Karabinerhaken zu fassen bekam. Zweimal hatte sie es schon versucht, einmal hatte sie den Tisch verfehlt, und gerade eben hatte sie sie am Kopf getroffen.
»Mist, Scheiße.«
Diesmal fluchte Alina, denn auch der vierte Versuch war danebengegangen.
»Wirf nicht immer so weit und etwas mehr nach rechts.«
»Ich versuch ja mein Bestes«.
Es brachte nichts. Erst als Alina die Kette in einem letzten Versuch völlig entnervt und planlos in Nicolas Richtung schmiss, hörte sie einen Jubelschrei aus der anderen Ecke des Raums.
»Hey, geil. Yes.« Hatte Nicola eben noch wie ein nörgeliger Teenager geklungen, zeigte sie jetzt eine kindliche Begeisterung darüber, dass es endlich geklappt hatte.
»Hältst du sie auch gut fest?«
»Sogar mit beiden Händen. Das war ein perfekter Wurf, quer über meine Hüfte.«
Also gut.
Alina zog erst vorsichtig, dann mit immer stärker werdendem Vertrauen an der Kette und schob sich damit Zug um Zug an Nicola heran.
Es funktioniert! Es funktioniert tatsächlich!
Ihr Abstand verkürzte sich Zug zum Zug, da die Rollen unter Nicolas OP -Tisch glücklicherweise fixiert waren.
Es gab eine Schrecksekunde, als sich der Beistelltisch zwischen ihnen verkeilte. Zu diesem Zeitpunkt waren sie sich schon so nahe, dass Alina wieder den Schweiß ihrer Mitgefangenen riechen konnte. Doch dann überwanden sie auch die letzten Zentimeter.
Obwohl sie Nicola in Greifnähe vermutete, wagte Alina es im ersten Moment nicht, die Hand auszustrecken, aus einer
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