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Der Ausflug

Titel: Der Ausflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Dorrestein
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Besuchszeiten in der Klinik hatten sie sich immer irgendwie anders behelfen müssen, weil man ja nie wusste, wer unverhofft hereingeschneit kam. Darüber, wie man das mit dem Sex lösen sollte, wenn man für längere Zeit im Krankenhaus lag, hörte oder las man nie was Vernünftiges.
    Die erste Tür öffnete sich, und sie stiegen ein. Im Fahrstuhl standen zwei Küchenhilfen mit ihren Tablettwagen und unterhielten sich, sodass sie sich über ihre Gedanken zu dem Thema nicht laut mit Leander austauschen konnte. Sie hätte sich gern bei ihm eingehakt, aber das ging mit den Krücken nicht. Sie musste sich ein Kichern verkneifen, das vermutlich leicht hysterisch geklungen hätte.
    Unten wartete sie auf einer Bank bei der Drehtür, während er das Auto holte. Es war ein dunkler Vormittag, typisch Dezember. Aber der Mangel an Tageslicht, der normalerweise so deprimierend war, störte sie heute nicht. Sie durfte nach Hause. Der Physiotherapeut hatte sie bis gestern Nachmittag auf die Folter gespannt, ob sie noch das Wochenende über bleiben musste oder nicht. Im Nachhinein hatte es sich als gut erwiesen, dass er ihre Entlassung erst im letzten Moment abgesegnet hatte, sonst hätte sie jetzt Yaja am Hals gehabt. Leander hatte bedeppert gesagt: »Wenn ich gewusst hätte, dass du schon nach Hause darfst, hätte ich sie ja das Wochenende über hier behalten können.«
    Man sollte natürlich immer danach streben, ein guter Mensch zu sein, keine Frage. Aber jeden Tag war das vielleicht doch nicht nötig.
    Unterwegs sprachen sie nicht viel. Leander, der es hasste, Auto zu fahren, saß verkrampft neben ihr am Steuer. Sie hütete sich, ihn jetzt anzufassen, sondern schaute aus Solidarität genauso konzentriert durch die Windschutzscheibe wie er. Ampeln sprangen um, Straßenbahnen tauchten bimmelnd auf, übermütige Radfahrer gebärdeten sich lebensmüde, Hunde machten auf dem Gehweg ihr Geschäft. Allein schon, dass sich alles um sie herum bewegte, ermattete sie. Als sie vor der Haustür hielten, war sie sehr müde. Vielleicht hätten sie vorhin für den langen Gang durch die Klinik besser einen Rollstuhl nehmen sollen. Jetzt musste sie nur noch aussteigen, ohne das schlimme Bein zu sehr zu belasten. Krücke links, Krücke rechts. Nicht schwindlig werden. Nur noch ein paar Sekunden, und sie würde sich auf ihrer eigenen Chaiselongue ausstrecken können.
    Leander ging ihr mit den Taschen voran. Behutsam, um nicht auszurutschen oder zu fallen, mühte sie sich hinter ihm her. Beim Üben war der Physiotherapeut immer hinter ihr gegangen, die Hände an ihrer Taille oder was davon übrig war. »Gut so. Gut so. Gut so.« Dank ihm war sie sich ganz groß vorgekommen. Jetzt hielt der Mann natürlich längst eine andere fest oder schlief sich neben seiner Frau aus. Vielleicht hatte er ihrer Entlassung nur zugestimmt, um heute nicht früh aufstehen zu müssen.
    »Willkommen zu Hause«, sagte Leander und öffnete die Tür.
    Sie humpelte hinein. Und gleich fiel ihr auf, wie kahl und abgetreten der schmale Flur war, wie fahl und farblos. »Kaffee?«, fragte Leander.
    »Warte mal eben«, sagte sie und blickte sich betreten um.
    War es dies, wovon sie die ganze Zeit geträumt hatte, eingesperrt inmitten des Resopals ihres Krankenzimmers?
    »Jetzt setz du dich erst mal hin.« Er ging in die Küche.
    Sie schleppte sich ins Wohnzimmer. Die beiden verschlissenen beigefarbenen Kordsessel am Kamin waren mit alten Zeitungen überhäuft. Benutztes Geschirr stand kreuz und quer auf dem Holzfußboden herum. Auf einem kleinen Stapel ungeöffneter Post balancierte ein verschmierter Eierbecher. Der Papierkorb schien seit Monaten nicht geleert worden zu sein. Das Haus sah wieder genauso aus wie damals, als sie bei Leander eingezogen war. Es schrie ihr ins Gesicht, dass er kein Mann war, der für sich selbst sorgen konnte. Er brauchte sie.
    Während sie einen Arm voll Wäsche zur Seite schob, um sich auf ihre Chaiselongue setzen zu können, wurde ihr wieder mal bewusst, dass sie ohne ihn ein Mensch wäre, der keine erwähnenswerte Rolle spielte. Wen machte sie denn beispielsweise glücklich ? Die Kinder, ja, die Kinder ihrer Freunde: Die konnten immer auf sie zählen, wenn sie schnell jemanden zum Entführen brauchten. Nur bekamen sie dafür hinterher eins auf den Deckel. Verflixt, nicht einmal als Tante war sie ein reiner Erfolg.
    Leander kam ins Zimmer, stellte den Kaffee vor sie hin und setzte sich in seinen eigenen Sessel am Kamin, der kalt war und voller

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