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Der Ausflug

Titel: Der Ausflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Dorrestein
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Sie ist unversehrt, sie ist gesund und munter.«
    Keine Spuren von Verwahrlosung. Keine Spuren von Gewalt. Aber auch keine Spur davon, wo sie war. Er erhielt keine Hinweise, die auf einen Ort hindeuten konnten, nicht ein einziges Bild von einem Haus oder einem Zimmer oder auch nur einem Bettchen. Das Einzige, was er sah, war, dass sie noch lebte.
    »Klammere dich nicht zu sehr daran, Maus«, hatte Timo einmal gesagt.
    Die Erinnerung daran versetzte ihr erneut einen solchen Adrenalinstoß, dass sie sich aufsetzen musste. Im selben Moment steckte Bobbie den Kopf zur Tür herein. »Ah, gut, du bist wach.« Wichtigtuerisch kam sie herein.
    »Für dich immer«, sagte Gwen, so warm sie konnte. Es half nichts: Ihre schreckliche Anschuldigung stand immer noch fühlbar zwischen ihnen. Bobbie hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Beschämt dachte sie: Ich war verrückt, ich war völlig verrückt vor Erschütterung, und da sagt man dann so was. Gott, was für ein Schlamassel.
    »Ich hab mir was überlegt«, sagte ihre Schwägerin. Sie blickte verlegen auf ihre Hände, die sie erst vor dem Bauch und dann hinter dem Rücken verschränkte.
    »Erzähl.«
    »Ach nein, dann ist es keine Überraschung mehr. Du musst mal eben mitkommen.«
    Auch das noch, eine Überraschung, speziell für sie. Bobbie dachte offenbar, sie sei es, die etwas wieder gutzumachen hatte. Ihre ganze Haltung verdeutlichte, dass sie nach Vergebung lechzte. Sie war nie in der Lage, ihre Gefühle zu verhehlen, sie kam gar nicht auf den Gedanken.
    »Wir gehen nach draußen, zieh also besser einen Pullover über.«
    Gwen stieß einen Seufzer aus. »Bob, ich kann nicht aus dem Haus. Ich muss beim Telefon bleiben.«
    »Timo wird schon rangehen, er ist ja heute nicht auf der Bienenweide, er ist in der Kerzenmacherei.«
    Jetzt bekam sie auch noch Schuldgefühle, weil sie Timo die ganze Arbeit machen ließ. Widerwillig schwang sie die Beine aus dem Bett.
    »Ich hab den Laden zugemacht«, sagte Bobbie, »wir zwei können also ruhig eine Weile ja.« Mit gewichtiger Miene zog sie am Schlüssel vom Vorderhaus, den sie an einer Kordel um den Hals trug.
    Gwen hob ihre Jeans vom Fußboden auf. »Wir sind doch aber gleich wieder zurück, ja? Ich meine, nicht, dass du Kunden verpasst.«
    Draußen wurde ihr beinahe schwindlig von der frischen Luft, nachdem sie so lange in dem stickigen Schlafzimmer geblieben war. Auf dem Hof zauderte sie kurz, legte den Kopf schief, spitzte die Ohren. Bestimmt würden sie ausgerechnet jetzt anrufen.
    Es war schon viel herbstlicher, als sie bisher mitbekommen hatte. Zwischen den Sträuchern hingen taubenetzte dicke Spinnweben. Das Laub der Reihe Rosinenbäume, die Timo auf ihre Bitte hin gepflanzt hatte, in einer Reihe, war schon nahezu rot. Normalerweise würde sie zu dieser Zeit des Jahres mit den Mädchen Kastanien, Beeren, Eicheln und Pilze suchen gehen. Aber in diesem Spätjahr hatte sie die Zeit anhalten, hatte sie die Erde daran hindern wollen, sich weiterzudrehen, weil jeder neue Tag die Wahrscheinlichkeit verringerte, dass sie Babette jemals wiederbekommen würde. Sie hatten es nicht ausdrücklich gesagt, die Leute von der Polizei, aber es schon deutlich durchblicken lassen. Mit jeder weiterenStunde, die jemand vermisst blieb, wurde ein glücklicher Ausgang unwahrscheinlicher. Auf die Suchmeldungen gingen schon lange keine Hinweise mehr ein. Die Menschen hatten ein kurzes Gedächtnis, und jeder Tag brachte wieder etwas Neues, das sie schockte und lähmte, weil es ihnen bewusst machte, wie verletzbar auch ihre eigenen Kinder waren. Da dachte man dann weiß Gott nicht mehr an die Kinder fremder Leute.
    Am Kanal mussten Bobbie und sie sich dem Wind entgegenstemmen. Kabbelige kleine Wellen rollten über das Wasser. Man konnte sie gegen die Uferbefestigung klatschen hören. Flach gepeitscht lag das Schilf an den Rändern, darüber hingen tiefe Wolken.
    Bobbies Schritte wurden immer schneller und nervöser, als könne sie die Überraschung, die sie in petto hatte, keinen Moment länger für sich behalten. »Wir sind fast da«, sagte sie keuchend, »wir sind wirklich gleich da.« Schon fast im Laufschritt bog sie auf den Radweg ab.
    Sie steuerte die Spielwiese an. Das musste es sein.
    Gwen wusste nicht, was sie davon halten sollte. Hier waren sie unter der Leitung des lispelnden Ermittlers am Morgen nach Babettes Verschwinden alle zu einer Rekonstruktion zusammengekommen. Im strömenden Regen hatten sie zunächst eine Weile unter dem großen

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