Der Ausflug
gewissenhaften Liste in drei Spalten aufzuwarten (»Beatrijs«, »Frank«, »Gemeinsam«). Sie hatte ihre Alice-im-Wunderland-Sammlung noch nicht eine Sekunde lang vermisst, wirklich nicht eine Sekunde.
Sie trug das Teetablett hinein.
Leander saß in dem sandfarbenen Kordsessel vor dem Kamin. Das Feuer knisterte. Er hatte Räucherstäbchen angezündet. Sie bekam einen Kloß im Hals. Bei ihm hatte ihr Leben erst wirklich begonnen.
»Yaja ist kurz ins Badezimmer, um ihr Make-up aufzufrischen.«
»Gut.« Gedankenlos hob sie die Teekanne, stellte sie aber gerade noch rechtzeitig wieder hin. Sie setzte sich neben Leander auf den Fußboden und lehnte sich rücklings gegen seine Knie. Sie fühlte seine Hände über ihre Schultern in ihre Bluse gleiten. Er umfasste ihre Brüste. Mit einem Seufzer ließ sie sich noch weiter zurücksinken. Was hätten sie dieses Wochenende nicht alles zusammen machen können, ohne Yaja.
Just in dem Moment kam diese ins Zimmer zurück. Ihre Augen weiteten sich. »Was soll ’n der Scheiß, ey?«
Beatrijs schoss unter Leanders Händen hervor und richtete sich auf.
»Setzt du dich gemütlich zu uns?« Leander streckte einen Arm nach seiner Tochter aus.
Yaja grapschte sich einen Keks vom Tablett und ließ sich mit roher Gewalt auf Beatrijs’ zierliche Chaiselongue fallen. Sie war von Kopf bis Fuß in schwarzen Samt gekleidet, ein kompliziertes mehrlagiges Gewand mit lose darüber drapierten Teilen. Das Hundehalsband mit den spitzen Stacheln fehlte heute. Stattdessen hatte sie nun eine Schnur mit Zähnen um den Hals, die aussahen wie archäologische Fundstücke. Auf ihrer weißen Stirn stand in purpurfarbenen Lippenstiftziffern »666«. Auf ihrem Keks kauend, fragte sie maulig: »Machen wir heute noch irgendwas?«
»Lass uns erst mal ein bisschen erzählen, was so alles passiert ist«, sagte Leander.
»Muss sie dabei bleiben?«
Es sei ein Vertrauensbeweis, dass Yaja kein Blatt vor den Mund nehme, betonte Leander immer: Sie wisse, dass sie und er sie auch dann noch liebten, wenn sie hässlich zu ihnen war.
Im Licht seiner bedingungslosen Liebe kam sie sich engstirnig und kleinlich vor. Zumal wenn sie sah, wie er sich jetzt schon seit Monaten für Gwen einsetzte. Jeden Nachmittag ließ er um den vermutlichen Zeitpunkt von Babettes Verschwinden herum alles, womit er gerade beschäftigt war, stehen und liegen, um sich mit den Fotos und dem Spielzeug des Babys in sein Studierzimmer zurückzuziehen. Es war unheimlich lieb von ihm, Gwen derart beizustehen. Er hatte keine Vorgeschichte mit ihr, keine gemeinsame Vergangenheit. Er tat das, weil Gwen ihre Freundin war. Da konnte sie ihrerseits zumindest dazu beitragen, dass Yaja sich bei ihnen wohl fühlte.
Leander faltete die Hände vor dem Gesicht. »Ich habe heute Morgen einen ziemlich beunruhigenden Anruf von Laurens bekommen, Yaja.«
Beatrijs schrak auf. »Von Laurens?« Sie spürte, wie ihre Mundwinkel zitterten. Sie hatte Laurens doch hoffentlich noch eingeschärft, auf keinen Fall durchblicken zu lassen, dass sie gestern praktisch den ganzen Abend bei ihm zu Hause gewesen war? So etwas konnte Leander nun mal nicht ertragen.
Sie hatte extra alles so gut geregelt. Er würde zum Essen nicht zu Hause sein: Er musste Unterlagen für seine Seminare von der Druckerei abholen, und danach wollte er sich einen Raum für ein demnächst beginnendes Projekt, eine wöchentliche öffentliche Psychometriesitzung ansehen. Es war verkaufsoffener Abend gewesen, sie hätte also eine gute Ausrede gehabt, falls er zufällig angerufen und sie nicht zu Hause angetroffen hätte. Schon Tage zuvor war sie in einem unbewachten Moment kurz im Kaufhaus gewesen, um die Rolle Nähgarn zu kaufen, die als Erklärung für ihre Abwesenheit dienen würde. Für den Fall, dass er früher nach Hause käme, hatte sie sogar in der Küche eine Pfanne, einen Kochlöffel, einen Teller und Besteck in den Geschirrkorb auf der Spüle gelegt, als hätte sie sich während seiner Abwesenheit ein Omelett gemacht. Und auf dem Nachhauseweg hatte sie in einer Straße, in der der Hausmüll zur Abholung draußen stand, rasch die Säcke mit Veronicas Kleidern dazugestellt. Wirklich, sie hatte es hervorragend organisiert.
Doch mit einem Mal sah sie wieder vor sich, wie sie die Müllsäcke mit Magenschmerzen vor Anspannung hastig und aufs Geratewohl irgendwo abgeladen hatte, und ihr wurde heiß vor Scham: So etwas musste man liebevoll machen, das durfte man nicht so respektlos abspulen.
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