Der Ausflug
in diesem Moment direkt vor seiner Nase.
»Veer?«, flüsterte er. Und sofort war es, als gehe in seinem Geist ein Fenster auf und ein völlig neues Licht falle herein. Wenn es zutraf, dass sie hier umging, dann tat sie das aus eigenem Antrieb, aus dem Bewusstsein heraus: Hier ist mein Zuhause, bei Laurens und den Jungs. Wenn sie so darüber dachte, konnten sie beide das Geschehene also doch noch wieder gutmachen. Er würde ihr verzeihen und sie ihm, und sie würden...
Sein gesunder Menschenverstand begann sich aufzubäumen. Schnell wieder ernüchtert, dachte er: Das ist pures Wunschdenken, sonst nichts.
Er warf die leere Bierdose in den Abfalleimer und fing an,die Geschirrspülmaschine auszuräumen: Damit hätte er dann morgen früh wieder Zeit gewonnen. Ein Mensch musste pragmatisch bleiben. Aber es war unverkennbar ihr Parfüm gewesen, das er gerochen hatte. Und was war mit all den Sachen, die in letzter Zeit nicht an ihrem angestammten Platz im Haus gelegen hatten, all den Malen, da etwas nicht so ganz gestimmt hatte und er lieber schnell den Blick abgewandt hatte, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen? Wenn sie ihn nun mit allerlei Signalen zu erreichen versuchte?
Mein Gott, gab es so etwas? Und was musste man dann tun?
»Schluss«, sagte er laut und machte das Licht aus.
Ob sie öfter kam, um Niels einen Gutenachtkuss zu geben?, dachte er auf dem Weg in sein Schlafzimmer. Und das ließ ihn einen Entschluss fassen. Er ging wieder nach unten und griff zum Telefonhörer. Gewiss, es war weit nach Mitternacht, aber am Freitagabend blieben die Leute ja öfter etwas länger auf. So schnell er konnte, wählte er die Nummer. Mit geschlossenen Augen zählte er die Klingelzeichen.
»Yaja.«
Vor seinem geistigen Auge tauchte ein weiß getünchtes Gesicht auf. »Yaja«, sagte er nach einem Moment, »hier ist Laurens, du weißt schon, ein Freund von Beatrijs. Ist dein Vater noch auf?«
»Laurens! Echt kinky, dass du mich anrufst!« Sie lachte mit einem kehligen Laut. »Die Alzheimer hier schlafen schon, also...«
»Ach... dein Vater ist schon zu Bett.«
»Ja, also, ich hab hier gerade gehockt und auf Action gewartet. Gibt’s hier in der Gegend nicht ’n chilligen Laden, wo wir zusammen hinkönnen?«
Telefon
War das Herbstlaub der Eichen je so tiefgolden gewesen? Oder die aufgehende Sonne so ungemein orange? Gwen stand am Fenster des Babyzimmers, Babette an ihre Schulter gelehnt. Die Welt wirkte an diesem ersten Morgen nach der wundersamen Heimkehr ihres Töchterchens wie mit Honig beträufelt. Ihr war, als könne sie durch das geschlossene Fenster hindurch die würzige Morgenluft riechen. Ein Trupp Gänse flog in Formation tief über die Bäume dahin, unterwegs zum Weidegrund auf der anderen Seite des Kanals. »Schau mal«, sagte sie zu Babette und zeigte auf die Vögel. »Da fliegen sie. Gack-gack-gack.«
Es gab wieder Farben, Geräusche und Gerüche, die sie wahrnahm. Es kam ihr vor, als wäre sie die ganze Zeit unter einer Glasglocke gefangen gewesen, die nun mit einem einzigen mühelosen Hieb von zwei Babyfäustchen entzwei geschlagen worden war. Das war mir eine, die Babette. So klein, mit noch kaum wahrnehmbarer Nagelhaut, und hatte doch schon Mamas Glück völlig in der Hand. Erschütternd, wenn man sich das mal überlegte. Es gab ihr ein Gefühl schrecklicher Verletzbarkeit.
Sie lief zur Kommode, wobei sie gewohnheitsmäßig Babettes Köpfchen stützte. So ein Quatsch, mit ein bisschen Hilfe konnte Babette ja jetzt schon sitzen. Mit bangem Stolz setzte Gwen sie hin. Was für eine Riesin ihre kleine Tochter in denvergangenen zwei Monaten geworden war, wie sie da wohl genährt in ihrer Windel saß. Und wie voll ihr Haar wurde, man konnte mit dem kleinen Finger schon fast Löckchen hineindrehen. Schade, dass ihre Augen dieses intensive Himmelblau verloren hatten, aber das konnte auch dadurch kommen, dass ihre Wimpern anscheinend länger geworden waren. Auch ihr Blick war verändert. Sie schaute gerichteter, aufmerksamer. Die Krabbenphase, wie Timo die ersten Monate immer nannte, war vorüber.
»Was hast du bloß alles mitgemacht?«, flüsterte Gwen, während sie die molligen Beinchen in einen Strampelanzug zwängte, den größten, den sie hatte finden können. Sie räumte die Kommode heute am besten gleich aus und holte den Karton mit den größeren Sachen vom Dachboden. Sie hatten eine Menge Zeit zusammen verpasst, aber es hatte keinen Sinn, sich deswegen zu grämen: Sie hatte ja genügend
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