Der Ausloeser
Lust zu Einsamkeit, von Wut zu Mitleid. Sie hatte keine Kraft mehr, sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Nun, als sie vor dem Mann stand, der unverhofft zu ihrem Liebhaber geworden war, der für sie gemordet hatte, der ihr nicht traute, der sie sogar geschlagen hatte, wusste sie nicht, was sie denken sollte. Und erst recht nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte.
»Ich hab nicht die Polizei gerufen«, flüsterte sie.
Er schwieg. Obwohl seine Tränen allmählich versiegten, erinnerte er an eine Vase, die gleich in tausend Stücke zerspringen würde.
»Der Detective hat sich die Kreditkartendaten von Dienstagabend geben lassen. So ist er auf mich gekommen.«
»Was hab ich nur getan?«, murmelte er in seinen Schoß.
»Ich werd’s überleben.«
»Das mein ich nicht. Das heißt, doch, das auch. Aber …« Er sah sie an – ein kleiner Junge mit verheultem Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe. Wirklich. Ich … Ich kann es selbst kaum glauben. Aber ich …«
»Ich weiß. Du meinst das in der Gasse.«
Er nickte.
Mit einem Seufzen ging sie in die Knie und setzte sich einen knappen Meter vor ihm im Schneidersitz auf den Boden. »Ich hab mich schon gewundert, wie du das so gut wegstecken konntest.«
»Ich hab einfach versucht, nicht drüber nachzudenken. Keine Sekunde, verstehst du? Ich hab mir eingeredet, das Ganze wäre nicht mir, sondern jemand anderem passiert, dem alten Mitch, und der neue Mitch würde wie der Phönix aus der Asche aufsteigen und alles hinter sich lassen. Nicht nur das in der Gasse. Alles.« Er wischte sich über die Wangen. »Ich wollte einfach, ich weiß nicht, ich wollte … stark sein. Ein Macher. Einer, der sich um dich kümmern kann. Ich wollte mehr wie …« Er blickte zu Boden, die letzten Worte waren kaum zu hören. »Mehr wie Alex sein.«
Jenn wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie ihn wirklich trösten wollte, oder mit wem sie es überhaupt zu tun hatte. Der neue Mitch, der alte Mitch, der am Boden zerstörte Mitch – sie kannte sich nicht mehr aus.
Schließlich brach er das Schweigen. »Was hast du dem Detective gesagt?«
»Nichts. Ich hab ihm gesagt, dass ich absolut nichts darüber weiß.«
Sofort blickte er auf, direkt in ihre Augen. »Hast du das für mich getan?«
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.« Ihre Wange brannte noch immer, in ihrem Mund breitete sich ein metallischer Geschmack aus. Offensichtlich hatte sie sich bei der Ohrfeige in die Backe gebissen. »Ich glaube, ich hatte ganz einfach Angst.«
Mitch nickte. »Das kenn ich.«
Sie saßen sich gegenüber, ohne sich zu berühren, ohne sich anzusehen. Im Hintergrund rumorte das Leben, das einfach weitermachte wie immer, doch Jenn hatte das Gefühl, nichts mehr damit zu tun zu haben. Als wäre sie in ihrer eigenen kleinen Blase gefangen.
Bis sie die Stimme an der Tür hörte.
Unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln war Ian von der Martini-Bar zu Jenn gerast, und so hatte er die Strecke in fünfzehn Minuten geschafft – nicht schlecht für einen Samstagabend um kurz nach elf. Die ganze Zeit hatte er die Stimme des Chemikers im Ohr gehabt, der ihm ruhig und sachlich erklärt hatte, was sich aller Wahrscheinlichkeit nach in den Flaschen befand.
Als Ian die offene Wohnungstür sah, befürchtete er schon das Schlimmste. Er zwang sich, Ruhe zu bewahren und weiter darauf zuzugehen. »Hallo?«, fragte er und steckte den Kopf in den Flur.
Stille. Erst nach einer halben Ewigkeit hörte er Jenns Stimme. »Komm rein, Ian.«
Er trat ein und schloss die Tür. Noch letzte Woche hatte er keine Ahnung gehabt, wie es in ihrer Wohnung aussah; jetzt fühlte er sich fast wie zu Hause, als er durch den Flur ins Wohnzimmer ging.
Und Jenn und Mitch auf dem Boden sitzen sah.
Im ersten Moment dachte er, die beiden wären vielleicht zusammengeschlagen worden – doch als sie ihn von unten herauf anschauten, sagte ihm etwas in ihrem müden Blick, dass die Sache deutlich komplizierter lag. Jenns Wange brannte feuerrot. »Was ist denn mit dir passiert?«
»Ist halb so wild«, sagte sie, doch Ian hatte das Gefühl, dass sie nicht mit ihm, sondern mit Mitch redete. »Wir haben ganz andere Probleme.«
»Du sagst es«, erwiderte er. »Und dabei kennst du nur die halbe Wahrheit.« Er atmete tief ein. »Wir dachten doch immer, bei dem Deal wäre es um Drogen gegangen. Tja, wir haben uns geirrt. Es ist schlimmer. Viel schlimmer.«
31
GOTT, WIE ER BERECHENBARE MENSCHEN
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