Der Ausloeser
schien noch einen Moment in der Luft zu hängen. Mitchs Handfläche kribbelte. Langsam, ungläubig, blickte sie auf, sah ihn an und fasste sich an die Wange, die bereits rot anlief. Ihre zarten Fingerspitzen legten sich auf die Haut, ihre Unterlippe zitterte wie bei einem kleinen Mädchen.
Urplötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war seine Wut verflogen. Zurück blieb eine schreckliche Leere. »O Gott.«
Sie starrte ihn an. »Du hast mich geschlagen.«
»O. Gott.« Mitch stolperte zurück und knallte gegen die Wand neben dem offenen Kamin. Er wollte weg von hier, nur noch weg, doch die Beine gaben unter ihm nach, und er rutschte auf den Boden, die kühle Mauer am Rücken. Er fühlte sich plötzlich genau wie damals in der Gasse – als wäre er gar nicht da, als hätte er seinen Körper, den normalen Lauf der Zeit verlassen.
Genau wie damals, als er die Pistole gehoben und über den Lauf auf den Mann am Boden gestarrt hatte. Als er, eine halbe Sekunde, bevor es so weit war, realisierte, dass er wirklich abdrücken würde.
Auch jetzt hatte er eine halbe Sekunde vorher gewusst, dass er gleich zuschlagen würde. Es war genau wie damals. Genau wie damals, als er …
Einen Menschen umgebracht hatte.
Weg damit.
»Du hast mich geschlagen.«
Weg
Er sah ihn vor sich, den Mann am Boden, er sah den Blick in seinen Augen, die Erkenntnis darin, was gleich geschehen würde – dass Mitch alles auslöschen würde, was er war und jemals sein würde.
W…
Dann der Rückstoß des Revolvers in seiner rechten Hand. Derselben Hand, die immer noch brannte, weil er die Frau geschlagen hatte, die er liebte.
Was war nur aus ihm geworden?
Ein gefährlicher Mann. Ein Killer.
Ein Monster.
»Raus hier«, sagte Jenn, doch Mitch hörte sie kaum. Statisches Rauschen dröhnte in seinen Ohren, vor seinem inneren Auge lief eine Endlosschleife: der Moment nach dem Schuss. Wie der Körper des Mannes gezuckt hatte, als die Kugel in seiner Brust einschlug. Wie sich der rote Fleck auf dem Hemd ausgebreitet hatte, viel langsamer, als er gedacht hätte. Dann der letzte, schwache Atemzug, fast vollständig übertönt vom Echo des Knalls.
Er hatte einen Menschen umgebracht.
Mein Gott. Er hatte einen Menschen umgebracht .
All die Gefühle, die er weggesperrt hatte, brachen über ihn herein wie eine Lawine: Grauen und Scham, Schuldgefühle und vor allem Angst. Seit Tagen zwang er sich, das alles zu verdrängen, wegzuschieben, in einem tiefen Loch zu vergraben, seit Tagen versteckte er sich vor den Tatsachen. Er hatte einen Vertrag mit dem Teufel geschlossen, ohne dem Teufel in die Augen zu schauen.
Doch jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Er war nicht mal halb so stark, wie er vorgegeben hatte. Er hatte es versucht, aber er war nun mal kein kalter, berechnender Mensch, für den alles nur ein Spiel war, ein großes Theaterstück.
Er war Mitch. Mehr war er nie, mehr würde er nie sein.
Mitch vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.
Zunächst war sie einfach nur erschrocken. Sie war noch nie geschlagen worden, noch nie, so etwas war in ihrem Leben nicht vorgesehen. Deshalb kamen ihre Gedanken überhaupt nicht hinterher. Ihre Wange brannte. Sie legte die Hand aufs Gesicht. Ja, es war alles noch an Ort und Stelle.
In Mitchs Augen tat sich etwas, etwas Schreckliches. Einen Moment lang dachte sie, er würde sie gleich noch einmal schlagen; stattdessen stolperte er zurück, als wäre nicht sie, sondern er geohrfeigt worden, krachte gegen die Wand und sackte auf den Boden, mit blassem Gesicht und zitternden Händen. Er sah aus, als würde er sich gleich übergeben.
»Du hast mich geschlagen.« Erst als sie ihre eigene Stimme hörte, begriff sie, was geschehen war. »Du hast mich geschlagen.«
Seine Lippen bewegten sich, er sagte etwas, doch sie konnte ihn nicht verstehen. »Raus hier.« Ihre Angst verwandelte sich in Wut. Sie wollte ihn anschreien, treten und hauen, ihm das Gesicht zerkratzen. Falls nötig, würde sie ihn aus der Wohnung prügeln. Los, dachte sie, fass mich noch ein einziges Mal an!
Aber er machte keine Anstalten, wieder aufzustehen, sondern brach vollständig zusammen. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, ein ersticktes Keuchen drang aus seiner Kehle, seine Schultern bebten.
Er weinte.
Und obwohl sie immer noch allen Grund hatte, wütend zu sein, beruhigte sie sich. Die letzten Tagen waren ein einziges Gefühlschaos gewesen, ständig war sie von einem Extrem ins andere gewechselt, von Euphorie zu Panik, von
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