Der Außenseiter
»Wir haben wahrscheinlich gehofft, er würde sich endlich mal wehren – ein bisschen Mumm zeigen –, aber das ist nie passiert.
Vielleicht war er zu vernünftig.« Sein Blick wurde hart, als gälten seine Worte Jonathan. »Wie George vorhin schon sagte, wenn Leute die Beherrschung verlieren, ufern die Dinge gern aus, und Howard hatte wirklich Angst vor Micks Messer.«
Jonathan stützte sich mit den Händen auf die Rückenlehne eines Stuhls. »Sie waren drei gegen einen«, stellte er sachlich fest. »Wie standen da seine Chancen?«
»Nicht gut«, gab Roy zu, »deshalb war’s auch gescheit von ihm, dass er versucht hat, uns auszu-weichen. Das Schlimme war nur, dass uns das gerade erst recht gereizt hat. Meistens hat er sich versteckt – entweder bei sich zu Hause oder bei seiner Großmutter –, aber wir haben immer die Augen nach ihm offen gehalten. Sie sagen beide dauernd, dass er seine Großmutter nicht umgebracht hat.
Aber er hat’s getan. Ich weiß das, weil wir ihn so weit gebracht haben. Mick hat ihn nicht in Ruhe gelassen und sich ständig über ihn lustig gemacht, weil er keine Waffe hatte, und eines Tages zieht Howard plötzlich ein Riesenfleischermesser raus und fängt an, auf Colley loszugehen. Im Prozess haben sie gesagt, er wäre ausgerastet und hätte seine Großmutter mit dem Messer angegriffen – wie 433
bei Colley. Er war total weggetreten – hat getobt wie ein Berserker und so wild um sich geschlagen, dass Mick und ich nicht an ihn rankommen konnten. Er hat Colley zweimal am Arm erwischt, bevor wir abgehauen sind. Wir sind direkt zum Krankenhaus gerannt. Soweit ich mich erinnere, musste Colleys Arm mit zwanzig Stichen genäht werden, und die Narben waren noch fünf Jahre später zu sehen.«
Er wandte sich George zu. »Ich bin nicht stolz darauf, deshalb wollte ich nicht, dass Sie davon erfahren. Wir hatten Angst, Howard würde behaupten, es wäre nur unsere Schuld, dass er sich wie ein rasendes Monster aufgeführt hatte, aber die Polizei hat sich nie bei uns gemeldet, obwohl die meisten Leute in der Straße wussten, dass wir ihn immer terrorisiert hatten. Am merkwürdigsten hat Wynne sich verhalten. Jedes Mal, wenn sie uns gesehen hat, hat sie uns beschimpft, aber der Polizei hat sie nie was gesagt, nicht mal beim Prozess.«
Er schnippte Asche zu Boden. »Ich weiß bis heute nicht, warum. Wenn sie ihn für vermindert zurech-nungsfähig erklärt hätten, wär er nach Broadmoor in psychiatrische Behandlung gekommen. Aber so haben sie ihn in Dartmoor eingesperrt, wo er nie eine Chance hatte.«
George legte ihren Koffer auf den Tisch und zog sich einen Stuhl heraus. »Er hat sich für nicht schuldig erklärt«, sagte sie und öffnete dabei die 434
Schnappschlösser. »Wie Sie ihn behandelt haben, war daher unerheblich für seine Verteidigung. Das wissen Sie so gut wie ich, Roy. Interessanter ist die Frage, warum die Verteidigung diese Episode mit dem Fleischermesser nicht vorgebracht hat, um ihre Beweisführung zu untermauern.« Sie nahm ihren Notizblock aus dem Köfferchen. »Hat Colley ihn damals angezeigt? Wie hat er die Verletzung im Krankenhaus erklärt?«
»Er hat gesagt, er wär in eine Messerstecherei verwickelt gewesen, aber er hat keine Namen genannt.«
»Warum nicht?«
Roy zuckte mit den Schultern. »Wir wollten nichts mit der Polizei zu tun haben.«
»Wann passierte diese Geschichte?«
»Ein oder zwei Monate bevor Grace umgebracht
wurde. Ich weiß nicht mehr genau.«
Jonathan schaltete sich ein. »Wie gut waren Sie mit ihr bekannt?«
»Überhaupt nicht.«
»Wieso nennen Sie sie dann Grace?«
Ein kurzes Zögern. »Alle haben sie so genannt.
Auch die Zeitungen.«
»Sie haben gesagt, Sie könnten nicht lesen.«
Unwillen flackerte kurz in den dunklen Augen auf. »Und? Im Laden bei meinem Vater ist damals doch von nichts anderem geredet worden. Er hat jede gottverdammte Zeitung gelesen und jedem, 435
der es hören wollte, die neuesten Entwicklungen mitgeteilt.«
Jonathan beugte sich über den Tisch und schlug eine Seite in Georges Block zurück. »Wir haben gehört, dass Sie mit Ihrem Vater keinen Kontakt hatten. Die Ehe Ihrer Eltern war gescheitert, und Sie lebten mit Ihrer Mutter am Colliton Way. Ihr Vater verheiratete sich wieder und wollte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.« Er sah auf. »Vermutlich hatte Ihre Stiefmutter eigene Kinder und wollte keinen Rowdy, der nicht schreiben und lesen konnte, im Haus haben.«
Roy Trents Miene verfinsterte sich. »Was
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