Der Außenseiter
noch mal schlägt.«
Sasha war nicht bereit, sich auf Nebenkriegsschauplätze locken zu lassen. »Ihr Bruder hat es aber anders in Erinnerung, Mrs. Fletcher. Er beschreibt ein ungeheures Maß an Brutalität, das unverzeih-lich war, ganz gleich, wie alt die Täter waren.«
»Dann müssen Sie sich wohl entscheiden, wem von uns Sie glauben wollen – obwohl ich die Art und Weise, wie mein Bruder meine Ehemänner verleumdet, ausgesprochen unverschämt finde. Er hat mit keinem von ihnen mehr als einmal gesprochen, und das war eben an dem Tag, als er so betrunken war, dass er kaum zwei zusammenhängende Worte herausbekam.«
613
Sasha nahm die Kopien der Zeitungsausschnitte, die George aufgestöbert hatte, aus der Akte und legte den Ausschnitt mit dem Interview mit Jean Trevelyan obenauf. »Sie sagten damals bei der Polizei aus, es sei eine Rudelvergewaltigung gewesen«, begann sie und reichte ihr das Blatt. »Jean Trevelyan bezieht sich in diesem Artikel auf Ihre Aussage.«
Louise warf einen Blick auf die Schlagzeile und legte den Bericht auf den Couchtisch, ohne ihn gelesen zu haben. »Wie soll ich einen Ausdruck verwendet haben, den ich gar nicht kannte?«, konterte sie. »Ich habe lediglich beschrieben, was geschehen war. Rudelvergewaltigung hat die Polizei es genannt – und das ist wahrscheinlich der Grund, warum Billy jetzt seine Erinnerungen ausschmückt.«
Sie holte kurz Atem und fuhr in versöhnlicherem Ton fort: »Ist denn das wirklich notwendig? Es hilft doch den Trevelyans nicht, jetzt darauf zu dringen, dass Billys Version akzeptiert wird. Die Jungs wurden damals von der Polizei vernommen, aber es wurde keine Anklage gegen sie erhoben, weil man die Sache ganz einfach nicht so schwerwiegend fand.«
»Es wurde keine Anklage erhoben, weil Ihre Freundin Cill verschwunden war und Sie sich wei-gerten, die Täter zu identifizieren.«
»Es war keine Weigerung. Ich konnte sie nicht identifizieren – jedenfalls damals nicht. Wir haben 614
uns ja erst später angefreundet, als Micky und ich miteinander gegangen sind. Ich habe mich erst daran erinnert, dass er einer von ihnen war, als ich sie alle drei zusammen sah, da ist mir alles wieder eingefallen. Aber da hatte Micky mich schon überzeugt, dass sie in Ordnung waren.« Sie strich sich mit einer Hand über den Baumwollstoff ihres Kleids. »Vielleicht sollten Sie Nick fragen?«, meinte sie. »Er wird Ihnen sagen, dass es wahr ist.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Soll ich ihn holen?«
Sasha unterdrückte ein nervöses Flattern ihres Magens. »Das wäre eine Hilfe«, sagte sie. »Danke.«
Louise lachte plötzlich und griff nach der Ziga-rettenpackung auf dem Kaminsims. »Ich würde davon abraten. Er hat eine Hirnverletzung und mag es gar nicht, wenn man ihn nach der Vergangenheit fragt – hauptsächlich weil er sich nicht erinnern kann und sich blamiert fühlt.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Es ist schon merkwürdig, wie das Gehirn arbeitet. Er hat ganze Teile seines Lebens vergessen, aber er hat die Form sämtlicher Pferde bis zurück ins Jahr 1980 im Kopf und kann immer noch ruck, zuck die Gewinnchancen ausrechnen.
An einem guten Tag kann er zehn Mille machen, ohne sich von seinem Computer wegzubewegen.«
»Erinnert er sich an die Vergewaltigung?«
»Keine Ahnung«, antwortete Louise mit einem boshaften Blitzen in den Augen. »Ich habe mich nie zu der Dummheit hinreißen lassen, ihn danach 615
zu fragen. Aber bitte! Sein Arbeitszimmer ist gleich hinter der Küche.«
»Erinnert er sich an Sie?«
»Was soll das heißen?«
»Gehören Sie zu einem Teil, an den er sich erinnert?«
Louise schien eine Falle zu fürchten und antwortete nicht gleich. »Ich kenne ihn seit Jahren«, sagte sie dann. »Er müsste schon sein ganzes beschissenes Leben vergessen haben, um sich an mich nicht zu erinnern.«
»Interessant«, sagte Sasha, die vermerkte, dass Louises scheinbare Kultiviertheit immer löchri-ger wurde. »Und wie nennt er Sie, Mrs. Fletcher?
Louise? Daisy? Cill? Oder Priscilla? So ließe sich doch nachprüfen, woran er sich erinnert.«
»Er nennt mich Priscilla.« Durch den Rauch ihrer Zigarette starrte sie Sasha an. »Den Namen trage ich schon seit zwanzig Jahren.« Sie lächelte zynisch.
»Und bevor Sie jetzt fragen, warum – ich war sto-ned, als ich ihn mir ausgesucht habe, wenn ich also dabei überhaupt an Cill dachte, dann höchstens im Unterbewusstsein. Ich fand einfach, der Name hätte mehr Klasse als Louise oder Daisy –
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