Der Außenseiter
Highdown und sprach dann von ihrer tiefen Betroffenheit, als sie erfahren hatte, dass Cill weggelaufen war. »Wir standen einander unglaublich nah«, murmelte sie, ehe sie abrupt in Schweigen verfiel, offenbar darauf wartend, dass Sasha den Faden wieder aufnehmen würde.
Der Hauch eines Geräuschs wehte durch das Haus, und diesmal war Sashas Nervosität nicht gespielt. »Sie wundern sich wahrscheinlich, wie ich Sie gefunden habe.«
»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete Louise. »Ich verstecke mich ja nicht. Man kann doch kaum mehr auf dem Präsentierteller leben als auf Sandbanks.«
Sasha verbarg sich hinter ihrem automatischen Lächeln. »Es war Ihr Bruder, der uns über Sie unterrichtet hat, Mrs. Fletcher. Er wusste, dass wir für Mr. und Mrs. Trevelyan tätig sind. Soviel ich weiß, hat er vor ungefähr einem Monat mit Ihnen Kontakt aufgenommen?« Sie beobachtete Louise ebenso scharf wie diese sie und bemerkte, wie deren Augen sich plötzlich zusammenzogen. »Sie 610
werden sicher verstehen, dass David und Jean Trevelyan die Hoffnung, ihre Tochter zu finden, niemals aufgegeben haben, und jedes Mal, wenn wir neue Informationen erhalten, setzen wir die Ermittlungen wieder in Gang.«
Sie nahm Akte und Block aus ihrer Aktentasche und legte beides auf ihren Schoß. »Sie wissen vielleicht nicht, dass sich im Laufe der Jahre verschiedene Ermittlungsunternehmen bemüht haben, Sie ausfindig zu machen«, fuhr sie fort. »Jedoch vermutlich wegen Ihrer zahlreichen Namensänderungen ohne Erfolg.«
Sie neigte den Kopf zu ihren Aufzeichnungen hinunter und hielt ihre Brille dabei mit einem Finger auf dem Nasenrücken. »Zuerst Louise Burton, dann Daisy Burton, dann Daisy Hopkinson, danach Cill Trent und jetzt Priscilla Fletcher Hurst.«
Sie hob den Kopf und sah Louise mit auffordern-dem Blick an. »Ich finde es einigermaßen verwunderlich, dass Sie sich Cills Vornamen zugelegt und die Männer geheiratet haben, die Ihre Freundin damals vergewaltigt haben.«
Louise kam der Aufforderung bereitwillig nach.
»Es geht Sie zwar nichts an«, sagte sie gelassen,
»aber ich kenne alle drei seit meiner frühen Jugend.
Ich wäre bei Michael geblieben, wenn er nicht gestorben wäre – und danach bei Roy, wenn Colley nicht zurückgekommen wäre. Daran ist nichts Verwunderliches. Vernünftige Menschen heiraten 611
immer ihre Freunde. Da weiß man wenigstens, worauf man sich einlässt.«
Sasha erwiderte einen Moment schweigend ihren Blick. Dann sagte sie: »Meinetwegen, nur wussten Sie in diesem Fall doch, dass Sie sich mit drei gewalttätigen jungen Männern einließen, die gemeinsam Ihre beste Freundin vergewaltigt hatten. Das Erlebnis hat Ihren Bruder traumatisiert – heute noch, dreißig Jahre nach dem Ereignis, überkommen ihn die Erinnerungen. Ist es Ihnen denn nicht ähnlich ergangen – zumal Cill drei Wochen danach spurlos verschwand?«
»Billy erfindet Geschichten, um mehr Pep in sein Leben zu bringen«, entgegnete Louise wegwerfend.
»Das würde wahrscheinlich jeder tun, der die lang-weiligste Person geheiratet hat, die ihm je über den Weg gelaufen ist, der immer brav getan hat, was Papa gesagt, und sein Leben lang in ein und demselben Haus verbracht hat. Er war zehn Jahre alt, und er war betrunken. Es ist doch klar, dass seine Erinnerungen völlig verzerrt sind.«
Sasha machte sich eine Notiz. »So wie Sie ihn beschrieben haben, erscheint er viel zu fantasielos, um Geschichten zu erfinden«, bemerkte sie. »Er ist jedenfalls überzeugt davon, dass seine Erinnerungen den Tatsachen entsprechen.«
Die gepflegte Ausdrucksweise geriet ein wenig ins Rutschen. »Also, von Vergewaltigung kann keine Rede sein. Cill war ja ganz geil auf Sex mit Roy, 612
sie kriegte ihren Rock nicht schnell genug hoch …
Erst als Micky und Colley auch noch mitgemischt haben, hat sie angefangen, sich zu beschweren.
Lieber Gott, die Jungs waren ganze vierzehn, hatten keinerlei sexuelle Erfahrung und waren stock-besoffen vom Wodka. Mindestens zwei von ihnen haben abgespritzt, bevor sie überhaupt drin waren.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich will damit nicht sagen, dass es lustig ist, wenn drei solche Bürschchen über einen herfallen, aber Cill war genauso groß wie sie und auch nicht ohne.« Sie hielt einen Moment inne. »Sie ist auch nicht wegen dieser Geschichte von zu Hause weggelaufen, sondern weil ihr Vater sie ständig verprügelt hat. Sie hatte vorher schon wochenlang immer wieder gesagt, sie würde abhauen, wenn er sie
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