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Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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von einer Wiederkehr der »bri-tischen Krankheit« der Siebziger, als Streiks zum Alltag gehört hatten. Schon aus Patriotismus, hielt man den Feuerwehrleuten vor, sollten sie an ihre Arbeit zurückkehren. Es hagelte Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen …
    Alle Reisenden, die an diesem Abend in Heathrow eintrafen, spürten die Stimmung. Man hatte sie auf die Anwesenheit von Panzern und Truppen vorbereitet, aber die Realität, der Anblick schwer bewaff-neter Soldaten und Polizeibeamter in den Terminals und ihrer Umgebung, war dennoch erschreckend.
    Sie gemahnte an ebendie Militärdiktaturen, gegen die die Menschen im Land zum Kampf aufgerufen wurden, und die skeptischen unter ihnen fragten sich, ob nicht vielleicht gerade jetzt, da der Krieg so nahe war, eine nicht näher spezifizierte terroristische Bedrohung politisch opportun war; ob nicht vielleicht das Ganze geschickte Propaganda war, um eine widerwillige Bevölkerung so sehr in Angst zu versetzen, dass sie am Ende die Notwendigkeit eines Präventivkriegs akzeptierte.
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    So jedenfalls sah es Jonathan Hughes, als er an diesem Abend um elf Uhr müde und zornig aus der Ankunftshalle 4 trat und sich vor der Tür sofort eine dringend gebrauchte Zigarette anzündete.
    Er war ein großer, gut aussehender Mann mit kurz geschnittenem Haar und einer Brille mit Goldrand, aber an diesem Abend sah er müde und abgeschla-gen aus. Er hatte an beiden Enden seines Flugs Ärger gehabt: vier Stunden Einchecken am New Yorker JFK-Flughafen und endlose Schlangen an der Passkontrolle in Heathrow. Niedergeschlagenheit überfiel ihn, als er die Panzer sah, und er dachte, wie leicht es für zungenfertige Demagogen war, Hass zu säen und zu schüren.
    New York war schon schlimm gewesen, aber dies war schlimmer. Er beobachtete eine Frau mit Hidschab. Sie kam mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern, die ihre Furcht verrieten, über die Straße auf ihn zu. Seit dem 11. September fühlte sich auf Flughäfen keiner mehr wohl, und Menschen mit arabischem Aussehen oder islamischer Kleidung wurden nicht nur von Polizei und Beamten der Einwanderungsbehörde mit Argwohn
    gemustert.
    Vielleicht spürte die Muslimin Jonathans Blick, denn sie sah auf, als sie näher kam. Das blassgrü-ne Kopftuch verhüllte Stirn, Wangen und Hals und nahm dem Gesicht wie beabsichtigt allen Reiz, und nicht zum ersten Mal fragte sich Jonathan, wie es 95

    kam, dass so viele Frauen bereit waren, sich zu verstecken, anstatt die Männer dafür verantwortlich zu machen, dass sie sich anständig benahmen.
    In diesen Zeiten legte das Kopftuch so offenkundiges Zeugnis vom Glauben einer Frau ab, dass es eine Gefahr war. Die gewohnte Verachtung für muslimische Männer wallte in Jonathan auf. Nicht nur verlangten sie von ihren Ehefrauen, dass sie allein die Verantwortung für ihre Keuschheit trugen – »eine Frau sollte verborgen sein, denn wenn sie ausgeht, sieht der Teufel sie an« –, sie waren auch noch zu feige, um ihren Glauben öffentlich zu zeigen. Wo war das Äquivalent des Schleiers für die Männer?
    Die Frau schlug die Augen nieder, sobald sie seinem zornigen Blick begegnete, und huschte vorüber. Wenn sie Anteilnahme erwartet hatte, so wurde sie enttäuscht. Jonathan beschäftigte sich zwar mit vergleichender Religionswissenschaft, aber aus rein akademischen Gründen. Bei ihm fand keine der Glaubensgemeinschaften Bewunderung oder Zustimmung. Er sah die Welt als eine gott-lose Wüste, in der Glaubenssysteme aufeinander prallten, weil die Aggressivität des Menschen unbezähmbar war. Gott war nichts weiter als ein Vorwand für Konflikte, genau wie der Kapitalismus oder der Kommunismus, und er fand es absurd, wenn Führer von Staaten oder Gruppen sich zur Rechtfertigung ihres Handelns auf Sittlichkeit und 96

    Moral beriefen. Es war nichts Moralisches daran, Menschen zu töten – die Gene eines Bauern waren so wertvoll für die Menschheit wie die eines Präsidenten –, es war nur zweckdienlich.
    Er ließ seine Zigarette fallen und trat sie aus, während er der Frau mit einer Miene nachsah, die seinen Ärger zeigte. Er nahm zutiefst übel, was das Kopftuch aussagte: dass jeder Mann ein potenzieller Vergewaltiger sei. Angeschlagen vom Jetlag und zynisch nach einer Woche in New York, wo jede vernünftige Diskussion über einen Palästinenserstaat und die Probleme des islami-schen Fundamentalismus unmöglich gewesen war, fand Jonathan seine Heimkehr tief entmutigend.
    Mochte Hiram Johnson gesagt haben,

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