Der Außenseiter
im
Prozess die Beweisaufnahme begann. Meine
Nachbarin erzählte, sie alle hätten geglaubt, die Polizei habe den Falschen verhaftet. Sie
sagte, Stamp habe sogar vor seinem eigenen
Schatten Angst gehabt, niemals hätte er einen Mord begangen. Tatsächlich glaubten viele,
Stamp sei von der Polizei genötigt worden und habe nur aus Angst gestanden, zumal ja keiner der Zeugen, die ihn weglaufen sahen, sich an
Blut an seiner Kleidung erinnerte. Es ging allgemein die Furcht um, dass der wahre Mörder
noch auf freiem Fuß sei.
Wie Sie in Ihrem Buch klar herausarbeiten, war es das gerichtsmedizinische Beweismaterial,
das nicht nur die Geschworenen, sondern auch
die Leute im Bezirk von Stamps Schuld über-
zeugte. Ein Detail haben Sie dabei ausgelassen: Dr. James Studeley, der Sachverständige der
Anklage, hatte in den Dreißigerjahren unter Sir Bernard Spilsbury – dem »Vater der forensischen Medizin« – erste Erfahrungen gesammelt.
Die Anklage machte darum großes Aufhebens
bei ihrem Kreuzverhör mit Dr. Foyle, des-
sen Qualifikationen »im Vergleich beschei-
den« waren, da er seine Assistentenzeit in
90
Australien bei einem »Unbekannten« abge-
leistet hatte. An einer Stelle forderte Robert Tring ihn auf, einen Pathologen, mit dem er
zusammengearbeitet hatte, zu nennen, von
dem vielleicht einer von den Geschworenen
schon einmal gehört habe. Da Studeley auf
eine ähnliche Aufforderung nicht nur Spilsbury genannt hatte, sondern auch Sir Sydney Smith, Professor Keith Simpson, Dr. Francis Camps
und Dr. Donald Teare, die alle zusammen
Ende der Vierzigerjahre die »Vereinigung der
Gerichtsmediziner« gegründet hatten, stand
Foyle als Leichtgewicht da.
Sein Verweis auf Keith Simpsons Kommentar
zu »identischen Haaren« verlor stark an
Überzeugungskraft, als Studeley mit einer
Bemerkung kontern konnte, die Simpson bei
einem anderen Prozess gemacht hatte. »Auf
›identische Haare‹ als Beweismittel zurückzu-
greifen, ist nützlich, wenn alles andere in dieselbe Richtung weist.« In Stamps Fall war dies
»alles andere« natürlich sein Geständnis.
Ich begrüße Ihre Bemühungen, die Öffentlich-
keit auf den Fall Stamp aufmerksam zu ma-
chen, Ihrem Interview bei Radio 4 habe ich
91
allerdings entnommen, dass Ihnen bisher wenig Erfolg beschieden war. Im Licht der Ergebnisse meiner eigenen Nachforschungen stimme ich
mit Ihrer Auffassung überein, dass Stamp auf
Grund eines erzwungenen Geständnisses und
zweifelhafter Beweise verurteilt wurde. Das
wird jedoch schwer zu beweisen sein, solange
es keinen anderen Verdächtigen gibt. Leider ist meine einzige Nachbarin, die 1970 hier am Ort war, vor fünf Jahren gestorben, und Wynne
Stamp, von der ich glaube, dass sie noch am
Leben ist, konnte ich nie ausfindig machen. Es heißt, dass sie ihren Namen änderte, aber einen konkreten Beweis dafür habe ich nicht.
Bitte schreiben Sie mir, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann.
Mit freundlichen Grüßen
George Gardener
***
Beantwortet am 5. 1. 03. Im Rahmen der folgenden Korrespondenz gemeinsames Treffen vereinbart am 13. 2. 03 in einem Pub namens Crown and Feathers in Highdown.
92
2
Flughafen Heathrow, London
Mittwoch, 12. Februar 2003, 23 Uhr
Die Nachrichten an diesem Abend waren düster. Die Regierung hatte Anweisung gegeben, den Flughafen Heathrow abzuriegeln. Rund um das Gebäude standen bedrohlich wirkende leichte Scimitar-Späh-panzer, und die Terminals wurden von bewaffne-ten Polizeistreifen überwacht. London schien von Unheil überschattet. Und führerlos. Die drohende Gefahr eines Krieges mit dem Irak – eines Krieges, der nicht mehr aufzuhalten war, wenn man BBC
und den Schlagzeilen an den Zeitungskiosken glauben durfte – bedrückte und ängstigte die Menschen. Viele sahen die Notwendigkeit eines Präventivschlags gegen ein darniederliegendes Land und einen Diktator, dem bereits das Rückgrat gebrochen war, nicht als erwiesen an, und kaum jemand verstand, warum man plötzlich Saddam Hussein mit Säbelrasseln zu Leibe rücken musste, wenn fünfzehn Monate lang Al Qaida der Feind gewesen war.
93
Es gab Gerüchte, dass das Kabinett gespalten sei, und das Ansehen des Premierministers im Land hatte den absoluten Tiefpunkt erreicht. Die Regierung machte einen schwachen Eindruck, seit nach fehlge-schlagenen Verhandlungen die Feuerwehrleute lan-desweit in Streik getreten waren und Soldaten ihre Aufgaben übernehmen mussten. Die Leute sprachen pessimistisch
Weitere Kostenlose Bücher