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Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit. In Jonathans Augen war das erste Opfer die Toleranz. Für seine Begriffe war die Welt seit dem Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon verrückt geworden.
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    Highdown, Bournemouth
    Donnerstag, 13. Februar 2003
    Am nächsten Morgen war er nicht besser gestimmt.
    Nach einer weiteren schlaflosen Nacht hatte sich das Gefühl der Niedergeschlagenheit höchstens noch verschlimmert. Er sollte lieber ausspannen, anstatt sich zu dieser Verabredung mit George Gardener zu peitschen. Sein Interesse an Howard Stamp war intellektueller Natur – ein nachlässiges Gerichtswesen war Zeichen einer müden Demokratie –, keineswegs war er von dem Wunsch be-seelt, eine Kampagne zu starten, um den Namen einer Einzelperson reinzuwaschen. Er war ein Mann des Wortes, nicht ein Mann der Tat. Mit unbeweg-tem Gesicht schaute er zum Zugfenster hinaus und fragte sich, warum er nicht abgesagt hatte.
    Von einem eisigen Ostwind getriebene Graupel-schauer prasselten jedes Mal gegen die Scheiben, wenn der Zug langsamer fuhr. Die anderen Reisenden mieden Jonathans Blick und lasen demonstrativ ihre Zeitungen. Er war 34 Jahre alt, ein Mann, 98

    der selten lächelte und durch die Brille älter aussah. Die Brille war Kosmetik, er hatte ausgezeichnete Augen, aber er trug sie, weil er es hasste, als Wissenschaftler nicht ernst genommen zu werden.
    Er verachtete schlechten Unterricht und Denkfaul-heit und war bekannt dafür, dass er sich gern mit Kollegen anlegte. Damit machte er sich zwar keine Freunde, aber seine fachliche Autorität wurde anerkannt. Zweifellos fanden seine Mitreisenden den grüblerisch düsteren Blick abschreckend.
    Du meine Güte, Jon, sie nehmen dich doch alle ernst … keiner würde es wagen, es nicht zu tun …
    In den Gärten und Parks am Stadtrand waren Fischweiher und Seen zugefroren, aber als Jonathan nach langem kalten Aufenthalt am Hauptbahnhof Bournemouth endlich in Branksome aus dem Zug
    stieg, begann der Schneematsch auf den Straßen, sich in Wasser aufzulösen. Ladeninhaber, die schon die ersten Auswirkungen der Kriegsangst und des Börsentiefs zu spüren bekamen, starrten mit trost-losem Blick auf die vom bitterkalten Wind leer ge-fegte Straße hinaus. An diesem Abend würde das Wetter die Schlagzeilen für die Lokalnachrichten liefern, und die Seniorenorganisation Age Concern würde an die Bürger appellieren, sich mit einem Zuschuss an den Heizkosten mittelloser Rentner zu beteiligen. Temperaturen um den Nullpunkt waren in Dorset eine Seltenheit, darum ließen sich so viele alte Menschen hier nieder.
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    »Blair ordnet Panzereinsatz an«, hieß es auf einem Anschlag vor einem Zeitungsladen, der auf halbem Weg die Highdown Road hinauf einsam zwi-
    schen heruntergekommenen Reihenhäusern stand.
    Jonathan warf einen Blick auf die ersten Seiten der Blätter auf den Ständern hinter der Tür. Die Panzer in Heathrow waren nichts Neues. Der Krieg war immer noch Schwindel. Er ging auf die andere Straßenseite hinüber und stellte sich in den Windschatten eines Hauses, um auf den Stadtplan zu schauen. Hätte er den Termin doch sausen lassen! Ein vom Jetlag ausgepowerter Körper ist nicht fähig, Wärme zu produzieren, und sein dünner Regenmantel war ungefähr so wasserdicht wie ein Fetzen Gaze. Und zu allem Überfluss hatte er auch noch Magenkrämpfe, weil er seit dem vergangenen Abend nichts gegessen hatte.
    Er kniff die Augen gegen Wind und Schneeregen zusammen, um das Straßenschild zu entziffern, und wünschte, er wäre schlau genug gewesen, sich einen Wetterbericht anzusehen. Ärger auf George Gardener schoss flüchtig auf. In seinem letzten Brief hatte Gardener geschrieben, das Crown and Feathers sei vom Bahnhof Branksome nur einen Katzensprung entfernt, aber vermutlich gehörte der gute Mann einem Wanderverein an und marschierte jedes Wochenende vierzig Kilometer nur zum Vergnügen. Unter einem Katzensprung verstand Jonathan eine Entfernung von ein, zwei 100

    Häuserblocks, aber doch nicht einen Marathonlauf durch einen Schneesturm. Seine Finger waren taub, durch seine Schuhe drang Wasser, und er glaubte nicht, dass dieses mühsame Unternehmen irgendetwas bringen würde. Die Depression, unter der er in letzter Zeit immer stärker litt, saß ihm im Nacken wie ein schwarzes Ungeheuer.
    Er nahm eine Zigarette heraus und schloss seine Hand um die Flamme des Feuerzeugs. Sofort blies der Wind sie aus. Es war bezeichnend für den ganzen Tag. Dreißig Jahre nach

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