Der Außenseiter
Howard Stamps Tod auf den Spuren des armen Teufels zu wandeln, um mit jemandem zu reden, der ihn nicht einmal flüchtig gekannt hatte – das war doch sinnlos. Er knipste noch einmal sein Feuerzeug an, mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor, und wünschte, er hätte Andrew Spicer nie erlaubt, in dem Buch eine Kontaktadresse anzugeben. »Wenn du glaubst, was du schreibst, dann unternimm etwas«, hatte Andrew gesagt. »Wenn nicht, dann hör auf, dem Rest der Welt Vorträge über Ungerechtigkeit zu halten.« Jonathan warf die Zigarette in den Rinnstein und zertrat sie vor Zorn.
Was wusste Andrew schon von Ungerechtigkeit?
Jonathan hätte ihn nach New York mitnehmen und mit einigen seiner schwarzen und muslimischen Freunde bekannt machen sollen, die sich kaum noch aus dem Haus wagten. Die Zahl der Verbrechen aus Hass stieg mit der Entsendung von 101
Truppen in die Golfregion. Wenn die Weißen sich nicht wegen des Krieges sorgten, sorgten sie sich um ihre Kapitalanlagen. Es war eine Zeit, in der man besser kein amerikanischer Araber oder amerikanischer Muslim war. Selbst Juden wurden wegen Israels augenscheinlich unnachgiebiger Haltung in der Palästinenserfrage angegriffen. Und schlimm erging es auch nordafrikanischen Stipendiaten an amerikanischen Universitäten. Wie Jonathan nur zu gut wusste. Er war zur Beerdigung des dreiund-zwanzigjährigen Jean-Baptiste Kamil nach New York geflogen, eines seiner Studenten, der den falschen Mann nach dem Weg gefragt hatte.
Andrew Spicer, geschieden, ehemaliger Eton-Schüler, mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen, würde diese Art der Diskriminierung niemals am eigenen Leib erfahren. Aber er verfolgte Jonathan mit seinen Sticheleien. »Es wird Zeit, dass du mal von deinem Elfenbeinturm herabsteigst und dir die Hände schmutzig machst«, hatte er nach der Lektüre von Gardeners Brief gesagt. »Das gibt einen guten Nachfolgeband, wenn du deine Theorie beweisen kannst, und ich werde ganz sicher ohne Schwierigkeiten einen Vorschuss herausholen.«
Jonathan zögerte. »Das wird eine Menge Zeit kosten.«
»Du brauchst das Geld.«
Das stimmte … »So dringend auch wieder nicht.«
Jedenfalls nicht dringend genug, um ein weiteres 102
Buch aus seiner Feder durch Andrews Bearbeitung
»aufpeppen« zu lassen. Der hatte das letzte Mal aus einer nachdenklichen Studie über die Ungerechtigkeit einen schamlos kommerziellen Schmöker gemacht. »Du hast schon mein letztes Buch rui-niert.«
»Es hätte sich nicht verkauft, wenn du es auf deine Art gemacht hättest. So hingegen hast du einen netten kleinen Gewinn kassiert. Und wirst einen größeren kassieren, wenn du eine Kampagne für Stamp ins Rollen bringst, verlass dich drauf. Denk nur mal an Ludovic Kennedys Buch John Christie, der Frauenwürger von Rillington Place. Das ist sogar verfilmt worden.« Andrew faltete seine drallen kleinen Hände auf dem Schreibtisch. »Du brauchst das Geld, Jon. Von einem Dozentengehalt kann man sich keine Paul-Smith-Anzüge kaufen und jeden Abend in die Oper rennen.«
Geld. Hatte man welches, konnte man seine Ressentiments in einen Karton packen und der Mensch sein, der man gern sein wollte. Hatte man keines, war man ein Niemand. Jonathan schaute in den Stadtplan, stellte erleichtert fest, dass die Friar Road die nächste links war, und kämpfte sich mit gesenktem Kopf weiter voran. Den BMW, der hinter ihm leise an den Bordstein rollte und hielt, bemerkte er nicht.
Das Crown and Feathers war an der Ecke, ein dunkler viktorianischer Bau mit Schildern in den 103
Fenstern, die »Jeden Samstag Live-Musik« und
»montags, mittwochs und freitags Mahlzeiten zu herabgesetzten Preisen für Senioren« anboten. Er hasste billigen Bums. Das Pub war wahrscheinlich Boxenstopp für Busladungen von Rentnern, die mal einen Tag am Meer verbringen wollten. Oder, noch schlimmer, Treffpunkt für die Alten, die am Ort lebten. Er konnte es sich vorstellen: Während im Hintergrund The White Cliffs of Dover oder We’ll Meet Again dudelte, wurde ungenießbares Essen serviert und Wein, wenn es überhaupt welchen gab, der wie Essig schmeckte. Er hätte hart bleiben und auf einem Restaurant in der Stadt bestehen sollen, aber dann hätte er womöglich die Rechnung übernehmen müssen. Seufzend drückte er mit der Schulter die Tür zur Bar auf und sah diese zu seiner Überraschung fast leer.
Auf einem Barhocker saß ein alter Mann, der mit ins Leere gerichtetem Blick sein Bier schlürfte. An einem Tisch in der Ecke
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