Der Außenseiter
abreagieren zu lassen. »Das hilft ihm«, pflegte sie zu sagen. »Jetzt kann er bestimmt schlafen.«
Die grenzenlose Verachtung für seine Mutter begleitete ihn, während er seinen Weg zum Bahnhof fortsetzte. Sie war eine dumme und ungebildete Person, die ständig nur um ihren schwachsinnigen Vater herumgetanzt war und sich einen Dreck um ihren Sohn geschert hatte. Was soll ich denn tun?
Ich bin nur eine Frau. Das wird Clarence nicht erlauben … Clarence wird böse werden … Clarence hat Probleme … Clarence wird mich schlagen …
Clarence … Clarence … Clarence …
Du hast so eine furchtbare Wut auf Frauen, Jon … eines Tages wirst du noch zu weit gehen und erst merken, was du getan hast, wenn es zu spät ist …
Züge liefen ein und fuhren wieder ab am Bahnhof Branksome, aber Jonathan fühlte sich zu elend, um darauf zu achten. Er stand vom Regen geschützt an eine Mauer gelehnt, zitternd und leicht schwan-kend, die Aktentasche an die Brust gedrückt, und starrte ins Leere. Mehrere Passagiere meldeten beim Verlassen des Bahnhofs einen arabisch aussehenden Mann, der stark schwitzte und sich merkwürdig benahm. Der Stationsvorsteher beobachtete ihn aufmerksam durch ein Fenster und überlegte, was er tun sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, 168
dass ein Selbstmordattentäter den Bahnhof von Branksome zum Ziel eines Anschlags wählen würde, andererseits jagten sich die palästinensischen Selbstmordattentäter in Bussen in die Luft. Züge waren lediglich ein Verkehrsmittel anderer Art.
Gerade wollte er die Bahnpolizei alarmieren, als eine Reisende, eine Frau, sich dem Mann näherte und ihm die Hand schüttelte.
»Alles in Ordnung?«, fragte die dunkelhaarige Frau fürsorglich, als sie Jonathans rechte Hand ergriff und warm umschloss. Sie trug einen teuren Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und einen Kaschmirschal, der lose um ihren Hals geschlun-gen war und die untere Hälfte ihres Gesichts verhüllte. »Sie sehen aus, als würden Sie gleich umfal-len. Brauchen Sie Hilfe?«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu, dann starrte er wieder über die Gleise hinweg in die Ferne. Jedes Mal, wenn er sich rührte, drohte ihm übel zu werden. Er hatte sich eingeredet, es käme von den vielen schlaflosen Nächten und dem Jetlag. Seit beinahe einer Stunde sagte er sich unablässig, es werde vorübergehen. Alles ging früher oder später vorbei.
Aber der nagende Schmerz in seinem Magen ließ fürchten, dass es etwas Schlimmeres war.
Die Frau trat vor ihn hin. »Sie müssen mit mir reden«, ermunterte sie ihn. »Sie werden von zwei Polizisten beobachtet.« Sie war hübsch, auf eine künstliche Art – das meiste war Schminke –, aber 169
sie schien ehrlich besorgt. Jonathan, dem nicht ent-gangen war, dass alle Vorüberkommenden einen großen Bogen um ihn gemacht hatten, fragte sich, warum sie sich die Mühe machte.
Polizisten …? Er drückte den Rücken fester an die Mauer. »Es geht mir gut«, sagte er mühsam.
Sie lachte und gab ihm mit behandschuhter Hand einen leichten Klaps auf den Arm, als begrüße sie einen alten Freund. »Sie müssen lächeln und ein bisschen schauspielern«, sagte sie. »Die beiden sind sehr argwöhnisch.« Sie wies mit dem Kopf zum Bahnsteigzugang. »Sie sind da drüben hinter der Mauer, und sie haben Angst, dass Sie eine Bombe in der Aktentasche haben.«
Eine Bombe …? Die Absurdität dieser Vorstellung erschütterte Jonathan, während er im selben Moment spürte, wie in ihm etwas nachgab – die erste der Mauern, die seine Gefühle eindämm-ten. In seiner Aktentasche war nichts als seine Brieftasche, Briefe über Howard Stamp, seine Opernkarte und sein Pass. Wenn eine einzige Lüge ans Licht kam … »Wie sollten sie auf so eine Idee kommen?«
»Sie sind schwarz«, sagte sie unumwunden, »Sie schwitzen wie ein Schwein, und Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie Todesangst. Heutzutage braucht es nicht viel, um die Polizei auf den Plan zu rufen.«
Die nächste Mauer brach ein. Wieso nannten 170
ihn alle einen Schwarzen? Wieso verglich ihn jeder mit einem Schwein? Hysterie kam in ihm auf und suchte Auslass, bevor sie sich in brennenden Tränen hinter seinen Augen niederschlug. Er hatte Angst, und er schwitzte, weil er nicht wusste, was mit ihm vorging. Er versuchte von neuem, alles auf den Jetlag zu schieben. Kein Mensch, der so ausgepowert war, konnte so viel auf einmal – das Begräbnis eines ermordeten jungen Mannes, anti-arabische Selbstgerechtigkeit, feindselige
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