Der Außenseiter
freut sich nur, wenn er glaubt, er hat einen wunden Punkt getroffen.«
Trotz ihrer teuren Kleidung schien sie ihm nicht aus wohlhabender Familie zu stammen. Sie sprach ähnlich wie Roy Trent den rauen, gutturalen Dialekt der Einheimischen. »Macht er das auch mit Ihnen?«
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»Er macht es mit jedem. Darum ist sein Pub so schlecht besucht.«
Es war eine andere Erklärung als die von George, aber sie erschien ihm einleuchtender. »Kennen Sie George Gardener, die Stadträtin?«
»Roys Freundin? Nur vom Sehen.« Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. »Jetzt sagen Sie bloß nicht, die hat Sie so fertig gemacht? Sie ist nach dem Krebs fromm geworden und möchte jetzt die ganze Welt bekehren …« Sie brach ab. »Nein, das ist fies von mir. Vergessen Sie, dass ich das gesagt habe. Sie meint es wirklich gut … setzt sich für die Armen ein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie was Unfreundliches sagen würde.«
Jonathan wunderte sich, warum sie so versessen darauf schien, jemand anderem die Schuld an seinen Schwierigkeiten zu geben. »Es ist die reine Erschöpfung«, sagte er. »Ich bin gestern Abend aus den Staaten gekommen und habe nicht geschlafen.
Es wäre gescheiter gewesen, ich wäre zu Hause geblieben.«
»Hat sich die Reise wenigstens gelohnt?«
»Die in die Staaten?«
»Nein, die heutige, hier runter.«
Er schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie noch mal her?«
Er sah sie an. Die Frage war nicht übermäßig auf-dringlich, aber ihre Beharrlichkeit machte ihn argwöhnisch. »Hat Roy Trent Sie mir nachgeschickt?«
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»Wohl kaum«, entgegnete sie mit einem kleinen Lachen. »Der hat Sie längst vergessen.« Sie schob ihr Kinn tiefer in den Schal. »Ich war, ehrlich gesagt, überrascht, als ich Sie hier fand. Sie sind lange vor mir aus dem Pub weg. Also – fühlen Sie sich wieder besser?«
»Ja, danke.« Er war erstaunt. Die Übelkeit war verschwunden, sogar das Zittern in seinen Armen hatte aufgehört. »Sie waren sehr freundlich.«
»Ich wollte Ihnen einfach nur helfen.« Sie schaute die Gleise entlang. »Ihr Zug kommt. Ich warte noch, bis Sie drin sind. Sie brauchen dann nur noch am Hauptbahnhof in Bournemouth umzu-steigen. Das schaffen Sie doch, oder?«
Er rutschte nach vorn, bis zur Kante der Bank.
»Und Sie?«
»Ich muss in die andere Richtung«, sagte sie. Als der Zug einlief, stand sie auf und reichte ihm seine Aktentasche, die sie irgendwann wieder geschlossen hatte. Er nahm sie ihr dankbar ab.
»Wieso sind Sie dann auf diesem Bahnsteig?«
»Ich habe gesehen, dass es Ihnen nicht gut ging.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.«
»Eine gute Samariterin«, sagte sie nur, zog eine Waggontür auf und drängte ihn einzusteigen.
Zuletzt sah er sie in ihren Schal vermummt, eine Hand zum Gruß erhoben, aber als er selbst den Arm hob, um zu winken, schoss ihm der Gedanke 176
durch den Kopf, dass er sie nicht wiedererkennen würde. Er hatte nicht mehr von ihr gesehen als ein Paar geschminkte Augen unter einem dunklen Pony. Es war ohne Bedeutung bis zu dem Moment, als er am Hauptbahnhof in Bournemouth seine Aktentasche öffnete und entdeckte, dass sie alles gestohlen hatte, was ihm wichtig war. Sie hatte seine Brieftasche genommen, sein Zugbillett, seine Opernkarte und, das Schlimmste, sie hatte ihm nichts gelassen, womit er hätte beweisen können, wer er war. Sein Pass war weg.
Danach drehte er völlig durch. Er rannte auf dem ganzen Bahnhof herum, rempelte die Leute an und beschimpfte sie lauthals. Einige hielten ihn für einen armen Irren. Andere hielten ihn für gefährlich. Als zwei Beamte der Bahnpolizei ihn packten und zu Boden warfen, nannte er sie faschistische Schweine und schlug mit der Aktentasche nach ihnen, bis einer der beiden ihm die Tasche entwand und das Knie in den Bauch rammte.
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Polizeidienststelle Bournemouth
Donnerstag, 13. Februar 2003, 20 Uhr 30
Andrew Spicer fand es gar nicht komisch, als er abends um fünf aus seinem Londoner Büro nach Bournemouth zitiert wurde, um dort für seinen Freund zu bürgen. Eine einfache Überprüfung von Jonathans Angaben hatte ergeben, dass ein Mann seines Namens am Abend zuvor bei der Einreise aus den Vereinigten Staaten kontrolliert worden war, und die Polizei, der sein Verhalten nicht gefiel, nachdem man ihn verhaftet hatte, weil er auf dem Hauptbahnhof von Bournemouth Amok gelaufen war, dachte nicht daran, ihn auf freien Fuß zu setzen, solange er keinen Nachweis seiner Identität erbracht
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