Der Außenseiter
gelähmt und ihn dazu getrieben hatte, seine Wut an den einzigen Menschen auszulassen, von denen er nichts zu fürchten hatte – seiner Familie.
Von Kindheit an hatte Jonathan verstanden, was den Groll seines Vaters speiste, trotzdem hatte er 164
ihn für sein Verhalten immer verachtet. Clarence hatte es in seinem Leben zu etwas bringen wollen, aber die Emigration nach England hatte – von seinen beruflichen Wunschvorstellungen weit entfernt
– seine Seele zerstört. Er war nicht dumm, aber sein Englisch war durch einen starken Akzent belastet, und seine Abschlüsse wurden in der neuen Heimat nicht anerkannt, die Türen zu einer Karriere, die ihm Ansehen verschafft hätte, blieben ihm verschlossen. Er musste sich mit untergeordneten Arbeiten bescheiden und die Verachtung für die Menschen, mit denen er zusammenarbeitete, verbergen. Die Opfer so viel unterdrückter Emotion waren seine Familienangehörigen, vor allem sein einziges Kind, auf das sich alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft richteten.
Derart drückende Erwartungen hatten Jonathan
schon früh im Leben gelehrt, nur bestimmte Facetten von sich preiszugeben und seine Geheimnisse so furchtsam wie ein Dieb für sich zu behalten. Für seine Mutter war er der allgemein beliebte Junge, der häufig etwas später von der Schule nach Hause kam, weil er mit Freunden unterwegs war.
Für seinen Vater war er der intelligente, fleißige Schüler, der häufig nach dem Unterricht noch in der Schule blieb, um in der Bibliothek zu arbeiten.
Für seine Lehrer war er der Sohn eines indischen Anwalts und einer ugandischen Ärztin, die in den Siebzigern unter Idi Amins Herrschaft vertrieben 165
worden waren und ihr gesamtes Vermögen durch Beschlagnahmung verloren hatten. Für die Schläger in der Schule war er unsichtbar.
Die Wahrheit – dass er sich in der Schultoilette versteckte, weil er Angst vor dem Heimweg hatte, und eine Geschichte für seine Eltern erfunden hatte, weil er sich ihrer schämte – verwischte sich selbst in seinem eigenen Bewusstsein. Es war leichter, Märchen von Popularität und erzwungenem Exil zu spinnen, als sich mit der eigenen Ängstlichkeit und dem Wunsch, respektiert zu werden, auseinander zu setzen. Er hatte sich sogar in der Rolle des Opfers ganz behaglich eingerichtet und zog Kraft aus ihr, indem er jede neue Beleidigung auf seiner Strichliste der Rache eintrug.
Wann genau er beschlossen hatte, aus Fantasien Fakten zu machen, wusste er nicht. Als er den Studienplatz in Oxford bekam? Als er die lang gezogenen Vokale und die klare Diktion der oberen Mittelklasse nachzuahmen begann? Als ihm klar wurde, dass scheinbarer Wohlstand beinahe ebenso nützlich ist wie tatsächlicher Wohlstand? Oder dass der Mythos von der guten Familie ganz leicht einzuführen war, indem er seine Familie aus seinem Leben verbannte? Vielleicht hatte es einen bestimmten Moment nicht gegeben, vielleicht war sein Abstieg in Betrug und Täuschung so allmählich vor sich gegangen, dass keine Lüge je schlimm genug schien, um dem Ganzen ein Ende zu machen.
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Warum stößt du Menschen zurück? Hast du Angst, sie könnten deine Fehler sehen? Was wäre daran so schlimm? Kein Mensch ist vollkommen …
Er las im Vorbeigehen das neue Plakat draußen vor dem Zeitungsladen: »USA der Brutalodiplomatie beschuldigt«. Der Pedant in ihm stellte sogleich das Nebeneinander von »Brutalo« und »Diplomatie« in Frage. Die beiden waren unvereinbar – oder sollten es sein. Das eine implizierte Rohheit und Ignoranz, das andere Intelligenz und Geschicklichkeit. In einem Krieg, der herbeigeredet werden musste, war allerdings das Säbelrasseln auf beiden Seiten ein schlagkräftiges Propagandawerkzeug.
Jonathan konnte nicht sagen, wie oft sein Vater sein Schicksal beklagt hatte, aber an seinem Verhalten hatte es nichts geändert. Die Furcht vor seiner Strenge – eine wirksamere Waffe als Schläge selbst – war sowohl in seiner Ehe als auch bei der Erziehung seines einzigen Kindes das vornehmli-che Züchtigungsmittel gewesen. Ungerechterweise hatte Jonathans seniler Großvater regelmäßig seinen heranwachsenden Enkel für seinen verhassten Schwiegersohn gehalten. Mit einem Mut, den er selbst auf der Höhe seiner Manneskraft nicht besessen hatte, hatte der alte Mann den Jungen gestellt und ihn für die Sünden seines Vaters büßen lassen, während Jonathans Mutter die Finger auf die Lippen drückte und ihren Sohn mit Blicken 167
anflehte, den Großvater einfach sich
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