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Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Unterricht nicht mitkommen, Dr.« – sie warf wieder einen Blick auf Jonathans Karte – »Hughes. Störendes Verhalten hingegen kann ein Zeichen überdurchschnittlicher Intelligenz sein, die nicht stark genug gefordert wird. Bei Priscilla traf eindeutig das Letztere zu … in dieser Hinsicht war ich ganz einer 331

    Meinung mit Mr. und Mrs. Trevelyan. Aber ich glaube nicht, dass diese hohe Intelligenz, die sie zu einem schwierigen und aufmüpfigen Kind machte, der Grund für ihr Schuleschwänzen war – oder für ihr Verschwinden.«
    »Was dann?«
    Miss Brett legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander.
    »Das müssen Sie ihren Vater fragen.«
    Jonathan sah George an, die ohne Zögern in das Gespräch eintrat. »William Burton erzählte mir, dass sie ein frühreifes Kind war, offenbar stark sexualisiert«, sagte sie sachlich. »Ich weiß, dass das damals ein Tabuthema war, aber glauben Sie – im Rückblick –, dass sie sexuell missbraucht wurde?«
    »Ja.«
    »Von ihrem Vater?«
    »Ja.«
    George griff nach Block und Stift. »Haben Sie darüber mit der Polizei gesprochen?«
    Ein kurzes Schweigen trat ein. »Nein«, sagte die alte Frau dann, »zu dieser Schlussfolgerung bin ich erst in den letzten zehn Jahren gelangt. Lange Zeit habe ich mir selbst die Schuld gegeben – es ist furchtbar, wenn man sich als Lehrerin für das Verschwinden eines Kindes verantwortlich fühlt.
    Ich hatte immer geglaubt, ich wäre ein Mensch, dem die Schüler sich anvertrauen konnten – so hätte es sein müssen … « Sie brach ab.
    332

    George fühlte sich zu einem Zeichen des Mitgefühls gedrängt, aber bevor sie etwas tun konnte, begann Jonathan zu sprechen.
    »Vor kurzem wurde in New York einer meiner Studenten ermordet, dem ich zu einem Stipendium an einer dortigen Universität verholfen hatte«, sagte er ruhig, »und mir ist nichts als ein ewiges ›Wenn nur‹ geblieben: Wenn er nur kein Schwarzer gewesen wäre … Wenn nur Amerika und Großbritannien nicht eine solche Terrorismushysterie heraufbeschworen hätten … Wenn nur der Mann auf der Straße erkennen könnte, dass Moslem und Terrorist nicht dasselbe ist …« Er lächelte. »Ich vermute, Ihr ›Wenn nur‹ hatte mit der Vergewaltigung zu tun. Wenn nur Priscilla sich Ihnen anvertraut hätte, dann hätten Sie sie nicht wegen des Streits mit Louise bestraft, ihr Vater hätte keinen Vorwand gehabt, sie zu schlagen – oder ihr Schlimmeres an-zutun –, und sie wäre nicht von zu Hause weggelaufen.«
    Hilda Brett nickte. »Das und mehr. Ihre Sprache war sexualisiert, und sie dachte sich überhaupt nichts dabei, mit anzüglichen Bemerkungen um sich zu werfen, besonders in Gegenwart männlicher Lehrer, aber keiner von uns kam auf den Gedanken, dass das ein Hinweis auf sexuellen Missbrauch sein könnte.« Sie seufzte wieder. »Es machte sie bei den Lehrern nur unbeliebt und brachte ihr härtere Strafen als sonst üblich ein. Es tut mir in der Seele 333

    weh, wenn ich daran denke. Man fragt sich, wo das arme Kind Liebe und Verständnis fand, wenn es die zu Hause nicht bekam.«
    »Tja, die Unwissenheit war damals groß«, sagte George. »Heute mag man kaum glauben, dass das Problem des Kindesmissbrauchs erst 1974
    mit den Ermittlungen im Fall Maria Colwell ans Licht kam.« Sie warf Jonathan einen Blick zu.
    »Erst als die arme Kleine von ihrem Stiefvater ins Krankenhaus gebracht wurde, erkannten die Behörden, dass sie sie hätten schützen müssen. Er war ihr Mörder – er hatte eine halbverhungerte Siebenjährige zu Tode geprügelt und glaubte allen Ernstes, niemand würde etwas dagegen haben.«
    »So viel besser ist die Situation nicht geworden«, bemerkte Jonathan, der an seine eigene Kindheit dachte. »Die Schwierigkeit ist, dass zwischen Kinderschutz und eugenischem Experiment nur eine dünne Trennungslinie besteht. Wir haben etwas dagegen, dass Kinder unzulänglichen Eltern zwangsweise weggenommen werden, aber wenn dieselben Kinder an Vernachlässigung und brutaler Behandlung sterben, schreien wir Zeter und Mordio. Ganz gleich, was die Behörden tun oder nicht tun, es ist immer verkehrt.«
    Hilda Brett sah ihn interessiert an. »Definieren Sie erst einmal Unzulänglichkeit«, sagte sie trocken.
    »Ich habe mit vielen Eltern zu tun gehabt, auf die diese Beschreibung besser gepasst hätte als auf die 334

    Trevelyans. Wer kann sagen, welcher Vater seinem Kind schadet?«
    »Oder wie er ihm schadet«, warf George nachdenklich ein. »Es gibt Hinweise, dass David

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