Der Außenseiter
Schulleiterin kennen lernen, die bei der Einführung der Gesamtschule in unser Schulsystem mitgewirkt hat. Es waren sicher schwierige und belastende Zeiten – aber vielleicht waren sie auch ganz aufregend?«
Sie runzelte ein wenig die Stirn, als hätte sie Zweifel, dass dies der Anlass ihres Besuchs war.
»Ja, das ist richtig«, stimmte sie zu, »aber wir wurden damals alle von einem starken missionarischen Eifer getragen. Meine Kollegen und ich hatten viel zu oft miterlebt, wie Kinder zu einer zweitklassi-gen Schulbildung verurteilt wurden, nur weil sie mit elf Jahren die Aufnahmeprüfung zum Besuch einer höheren Schule nicht bestanden.«
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»Und daher kaum eine oder gar keine Chance hatten, später ein Universitätsstudium aufzunehmen«, sagte Jonathan und setzte sich wieder.
»Richtig. Der direkte Weg zum Studium führte über die öffentlichen und privaten höheren Schulen, und wenn man die Aufnahmeprüfung nicht bestand, war es vorbei. Das heißt, dass über die Zukunft eines Kindes bereits in seinem elften Lebensjahr entschieden wurde.« Sie schwieg und blickte fragend von einem zum anderen. »Sind Sie wirklich hier, um sich darüber mit mir zu unterhalten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Meinung einer tattrigen alten Lehrerin für die derzeitige Bildungsdiskussion von Bedeutung ist.«
George setzte wieder ihr schuldbewusstes Gesicht auf. »Na ja …«
»In gewisser Weise schon.« Jonathan beugte sich vor, um sie direkt anzusprechen. »Wir arbeiten an einer Fallstudie über schwierige Jugendliche in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Darunter sind zwei aus Highdown, die uns interessieren: Howard Stamp, der wegen Mordes an seiner Großmutter verurteilt wurde, und Priscilla Trevelyan, die 1970
spurlos verschwand. Howard war zu alt, um Ihr Schüler gewesen zu sein, aber wenn ich nicht irre, war Priscilla eine Schülerin von Ihnen?« Er zog fragend eine Augenbraue hoch, und sie nickte.
»Wären Sie bereit, uns zu erzählen, was Sie über dieses Mädchen noch in Erinnerung haben?«
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Sie nahm diese weitere Enttäuschung mit einem unwilligen Seufzer auf. »Wenn Sie von einer Detektei kommen, verschwenden Sie hier Ihre Zeit.
Ich habe bereits den Leuten, die vor Ihnen hier waren, gesagt, dass ich keine Ahnung habe, was aus dem armen Kind geworden ist.«
Jonathan nahm eine Visitenkarte und seinen Universitätsausweis aus der Innentasche seines Jacketts und reichte ihr beides.
»Das auf dem Foto bin ich, da sind mein Name
und mein Titel – und unten auf der Karte steht meine Fakultätsdurchwahl. Sie können jederzeit dort anrufen und sich bestätigen lassen, dass ich der bin, der ich zu sein behaupte. Das Gleiche gilt für Miss Gardener, Sie können sich jederzeit bei ihrem Büro oder einem ihrer Kollegen im Pflegeheim The Birches in Highwood nach ihr erkundigen.«
Sogleich nahm auch George eine Karte aus ihrem Köfferchen und reichte sie der alten Dame hinüber. »Wir kommen nicht von einer Detektei«, versicherte sie. »Aber als ich Louise Burtons Bruder aufsuchte, reagierte er genau wie Sie, Miss Brett.
Soviel ich weiß, lassen die Trevelyans seit Jahren nach ihrer Tochter suchen.«
Miss Brett warf einen kurzen Blick auf die Karten, bevor sie in ihrem Sessel nach vorn rutschte, offensichtlich im Begriff aufzustehen. »Es tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Das war schrecklich damals – wenn ich irgendetwas 330
von Nutzen gewusst hätte, hätte ich gleich mit der Polizei gesprochen.«
Jonathan ignorierte den Rauswurf. »Georgina und mir geht es um etwas anderes«, erklärte er.
»Mehr als die Frage, wo Priscilla heute ist, interessiert uns, wie sie in die Statistik der verschwundenen Jugendlichen geriet. Wenn man den Aussagen ihrer Eltern glauben kann, wie sie von der Presse wiedergegeben wurden, rührte der größte Teil ihrer Probleme daher, dass sie intelligenter war als ihre Altersgenossen – und abwegig ist diese Vermutung keineswegs. Der Zusammenhang zwischen chronischem Schuleschwänzen und krimi-nellem Verhalten ist gut dokumentiert, und beides wird häufig durch Langeweile mit ausgelöst.
Stimmen Sie – stimmten Sie damals – mit Mr. und Mrs. Trevelyans Einschätzung ihrer Tochter überein? Wäre Priscilla weniger schwierig gewesen, wenn sie die Aufnahmeprüfung in eine höhere Schule geschafft hätte?«
Die Frage, die sich an die Pädagogin in ihr richtete, wirkte: Sie blieb sitzen. »Schulschwänzer sind meistens Kinder oder Jugendliche, die im
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