Der Azteke
drei Jungen hatten nur einen Kreis auf dem Boden gezogen, und jeder von uns hatte eine Springbohne in die Mitte gelegt; bei diesem Spiel geht es darum, wessen von der Sonnenwärme in Tätigkeit versetzte Bohne als erste über das Kreisrund hinausspringt. Meine Bohne schien ziemlich träge, und so belegte ich sie mit irgendeinem Fluch. Vielleicht habe ich »Pochéoa« oder etwas Ähnliches gesagt.
Plötzlich fühlte ich mich in die Höhe gerissen und hing mit dem Kopf nach unten. Meine Tene hatte mich bei den Fußgelenken gepackt. Ich sah die umgekehrten Gesichter von Chimali und Tlatli, die Mund und Augen vor Überraschung weit aufrissen, dann wurde ich ins Haus hineingetragen und neben der Kochstelle abgesetzt. Meine Mutter veränderte ihren Zugriff, so daß sie eine Hand frei hatte, mit der sie ein paar getrocknete rote Chili-Schoten ins Feuer warf. Als sie knisterten und einen dichten gelben Rauch entwickelten, packte meine Tene mich abermals bei den Fußgelenken und hielt mich kopfüber in diesen beizenden Rauch hinein. Sich auszumalen, was in den nächsten paar Augenblicken geschah, überlasse ich Eurer Phantasie, jedenfalls war mir fast, als müßte ich sterben. Ich weiß noch, daß mir die Augen einen halben Mond hinterher tränten und ich kaum etwas sehen konnte; auch konnte ich keinen Atemzug tun, ohne das Gefühl zu haben, ich atmete Flammen und Funken ein.
Gleichwohl muß ich wohl von Glück sagen, denn es war bei uns nicht Sitte, daß ein Knabe viel Zeit in der Gesellschaft seiner Mutter verbrachte; von nun an nutzte ich jedoch jede Gelegenheit, es nicht zu tun.
Ich mied sie hinterher wie mein Freund mit dem störrischen Wirbelhaar, Chimáli, den Priestern der Insel aus dem Wege ging. Selbst wenn sie nach mir suchte, um mir irgendeine Besorgung oder einen Botengang aufzutragen, konnte ich mich stets auf dem Hügel mit den Kalköfen in Sicherheit bringen.
Die Steinbrucharbeiter glaubten, keine Frau dürfe jemals ihren Kalköfen nahekommen, sonst werde der Kalk nicht gut; und nicht einmal meine Mutter wagte es, diesen Hügel zu betreten.
Aber die arme Tzitzitlíni hatte keinen solchen Zufluchtsort. Im Einklang mit der Sitte und ihrem Tonáli mußte ein Mädchen die Fertigkeiten von Frauen und Ehefrauen erlernen – Kochen, Spinnen, Weben, Nähen und Sticken –, und so mußte meine Schwester den größten Teil eines jeden Tages unter dem scharfen Auge und der zänkischen Zunge meiner Mutter zubringen. Ihre Zunge ließ keine Gelegenheit aus, eine der herkömmlichen, langatmigen Ermahnungen über Tzitzi ergehen zu lassen, wie Mütter sie nun einmal Töchtern zuteil werden lassen. Einige davon, die Tzitzi mir wiederholte, waren – darin stimmten wir überein – von einer, wer weiß welcher, längst verstorbenen Ahnin mehr zum Wohle der Mutter als dem der Tochter ersonnen worden.
»Befleißige dich stets des Dienstes an den Göttern, Mädchen, und strebe unablässig danach, das Wohl deiner Eltern zu mehren. Wenn deine Mutter dich ruft, laß dich nicht zweimal bitten, sondern komme augenblicklich. Erteilt man dir einen Auftrag, erhebe keine frechen Widerworte und säume nicht, ihm auf der Stelle nachzukommen. Ja, mehr noch: Wenn deine Tene jemand anders ruft und dieser andere nicht sogleich kommt, dann komme du, um zu sehen, was sie wünscht, mache du es dann und mache es gut.«
»Wenn du auf der Gasse oder sonst in der Öffentlichkeit einem passenden jungen Mann begegnest, beachte ihn nicht und gib ihm kein Zeichen, denn das könnte seine Leidenschaften entzünden. Hüte dich vor ungehörigen Vertraulichkeiten mit Männern, gib den niederen Regungen deines Herzens nicht nach, sonst verdirbt Wollust deinen Charakter so wie Schlamm klares Wasser.«
Tzitzitlíni hätte dieses einzige vernünftige Verbot wahrscheinlich nie übertreten. Als sie jedoch zwölf Jahre alt geworden war, spürte sie, ganz natürlich, so etwas wie sexuelle Regungen in sich und war voller Neugier, was diese zu bedeuten hätten. Vielleicht wollte sie das, was sie für unschickliche und unaussprechliche Gefühle hielt, verheimlichen, und versuchte, wenn niemand sie sah, allein und insgeheim diesen Gefühlen Luft zu verschaffen. Ich weiß nur, daß meine Mutter eines Tages unerwartet früh von einem Gang zum Markt nach Hause zurückkam und meine Schwester dabei überraschte, wie sie – von der Hüfte abwärts nackt – auf ihrem Nachtlager lag und etwas tat, dessen Bedeutung ich damals noch nicht verstand. Sie wurde dabei ertappt,
Weitere Kostenlose Bücher