Der Azteke
um die Beine meines Gefangenen. Der Blutstrom verebbte und wurde nur mehr zu einem leichten Sickern. Ich reckte mich zwischen den Bäumen zu voller Höhe empor und lauschte, wie es zuvor der Ritter getan hatte. Und das, was ich hörte, überraschte mich völlig. Das Schlachtengetümmel im Süden war nahezu verstummt, kaum mehr als ein Gemurmel, wie auf einem überfüllten Marktplatz, ein Raunen, in dem nur hin und wieder ein lauter Befehl zu vernehmen war. Offenbar war während meines kleinen Geplänkels die Hauptschlacht beendet worden.
Ich wollte dem mürrisch dahockenden Gefangenen mein Mitgefühl ausdrücken und sagte: »Ihr seid nicht der einzige Gefangene, mein geliebter Sohn. Es scheint, als sei Euer gesamtes Heer geschlagen.« Er stieß nur ein Grunzen aus. »Jetzt werde ich dafür sorgen, daß man sich um Eure Wunden kümmert. Ich glaube, ich kann Euch tragen.«
»Immerhin wiege ich jetzt etwas weniger als zuvor«, sagte er bissig.
Ich bückte mich, bot ihm meinen Rücken dar und nahm seine verkürzten Beine unter die Arme. Er hinwiederum schlang mir die Arme um den Hals, so daß sein wappengeschmückter Schild meine Brust bedeckte, als wäre er mein eigener. Cozcatl hatte bereits meinen Umhang und meinen Speer geholt; jetzt nahm er auch noch meinen Schild aus Weidengeflecht und trug mein blutbeschmiertes Maquáhuitl. Er klemmte sich all diese Dinge unter den Arm, ergriff dann mit den Händen je einen der abgetrennten Füße und folgte mir, als ich mich im Regen in Bewegung setzte. Ich stapfte in Richtung auf das murmelnde Geräusch im Süden zu, wo der Kampf mittlerweile offenbar ganz zum Erliegen gekommen war und wo, wie ich annahm, unser Heer dabei war, die Ordnung wiederherzustellen. Als ich die halbe Strecke geschafft hatte, stieß ich auf die Kameraden meiner eigenen Kompanie, welche Blut Schwelger von ihren Posten herbeiholen ließ, um dann wieder zum Hauptheer zu stoßen.
»Umnebelt!« rief mein Cuachic. »Wie konntest du es wagen, deinen Posten zu verlassen? Wo hast du ge …!« Dann war sein Gebrüll unvermittelt wie abgeschnitten, der Mund blieb ihm offen, und die Augen gingen ihm über. »Möge ich zur Mictlan verdammt werden! Schau, was mein Lieblingsschüler da anbringt! Das muß ich sofort dem Kommandanten Xococ melden!« Mit diesen Worten schoß er davon.
Neid- und ehrfurchtsvoll betrachteten meine Kameraden mich und meine Trophäe. Einer von ihnen erbot sich: »Ich werde dir tragen helfen, Umnebelt.«
»Nein!« stieß ich keuchend hervor, mehr Atem stand mir nicht zur Verfügung. Kein anderer sollte behaupten, mir bei meiner Tat geholfen zu haben.
Und so gelangte ich – den mißmutigen Jaguarritter huckepack auf dem Rücken, den frohlockenden Cozcatl hinter mir und Xococ und Blut Schwelger stolz neben mir einherschreitend – schließlich zum Gros beider Heere, genau an jene Stelle, wo die Schlacht geendet hatte. An einem hohen Pfahl flatterte das Banner des Waffenstreckens, welches die Texcaltéca aufgezogen hatten: ein Viereck aus Goldgewebe, wie ein Stück von einem vergoldeten Fischnetz.
Was uns erwartete, war keineswegs überschäumender Trubel oder auch nur stille Siegesfreude. Die Mehrzahl jener Krieger auf beiden Seiten, die überhaupt nicht oder jedenfalls nur leicht verwundet waren, lag völlig erschöpft herum. Andere – Acólhua genauso wie Texcaltéca – lagen nicht still da, sondern zuckten, wanden sich, schrien oder stöhnten im Chor: »Yya, yyaha, yya ayya ouiya«, während die Wundärzte mit ihrer Medizin und Salben zwischen ihnen umhergingen und die Priester mit ihrem Gemurmel sich zu ihnen herniederneigten. Ein paar Unverletzte halfen den Wundärzten, während andere umhergingen und die überall verstreuten Waffen, Leichen und abgetrennte Gliedmaßen einsammelten: Hände, Arme, Beine, sogar Köpfe. Einem Fremden wäre es schwergefallen zu sagen, wer in diesem wüsten Gemetzel Sieger und wer Besiegter war. Über allem lastete ein würgender Geruch, ein Gemisch aus Blut, Schweiß, Körperschmutz, Urin und Kot.
Ich winkte, während ich weiter ausschritt, blickte dabei um mich und hielt Ausschau nach jemand, von dem ich annehmen konnte, daß ich meinen Gefangenen bei ihm abliefern könne. Doch die Nachricht war mir vorausgeeilt. Plötzlich stand ich vor dem Anführer aller Anführer, Nezahualpíli höchstpersönlich. Er war gewandet, wie es sich für einen Uey-Tlatoáni geziemte – mit einem gewaltigen Kopfputz aus Federn und langem, in allen Farben schillerndem
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