Der Azteke
einziger See ist – oder drei, wenn ihr wollt –, haben wir ihn immer mit fünf Namen aufgeteilt. Nur der schwärzlichbraune Texcóco-See trägt einen einzigen Namen. Der südliche und kristallklare See heißt in seinem oberen Teil »Der Blumengarten«, weil das ihn säumende Land die Pflanzschule kostbarer Pflanzen für das gesamte umliegende Gebiet ist. Der Unterteil des Sees heißt Chalco nach dem Volk der Chalca, das an diesen Gestaden sitzt. Der See im Norden, wiewohl nur eine einzige Wasserfläche, ist gleichfalls unterteilt. Die Menschen, die auf der darin liegenden Insel Tzumpánco, der Schädelförmigen Insel wohnen, nennen die obere Hälfte Tzumpànco-See. Und die Menschen meiner Heimat Xaltócan, Insel der Feldmäuse, nennen ihren Teil den Xaltócan-See.
Für einen Geographen gibt es nur einen einzigen See in dem Tal. Für einen Bootsfahrer, der mühselig mit dem Paddel sein Acáli vorantreibt, gibt es drei ausgedehnte und miteinander verbundene Wasserflächen. Für die Menschen, die auf dem See und um ihn herum leben, gibt es deren fünf, die sie mittels verschiedener Namen voneinander unterscheiden. Genauso trug keiner unserer Götter oder Göttinnen nur ein Gesicht, eine Verantwortung, einen Namen. Gleich unserem aus drei Seen bestehenden See, konnte ein einziger Gott eine Dreifaltigkeit von Teilbereichen verkörpern …
Warum runzelt ihr die Stirn, ehrwürdige Patres? Nun gut, ein Gott konnte zwei Gestalten haben, oder fünf. Oder zwanzig.
Je nach der Jahreszeit – Regenzeit oder Trockenzeit, lange oder kurze Tage, Pflanzzeit oder Erntezeit – und je nach den Umständen – Krieg oder Frieden, Überfluß oder Hungersnot, freundliche Herrscher oder grausame – unterschieden sich die Pflichten eines Gottes, desgleichen seine Einstellung zu uns, und unsererseits die Art und Weise, wie wir ihn verehrten, ihn feierten oder beschwichtigten. Oder, anders betrachtet, unser Leben und der Ertrag unserer Felder, unsere Siege oder unsere Niederlagen konnten vom Wesen und von den vorübergehenden Stimmungen des betreffenden Gottes abhängen. Wie die drei Seen konnte er bitter oder süß oder ganz und gar gleichgültig sein, ganz wie es ihm beliebte.
Dabei wurden die vorherrschende Stimmung des Gottes und dasjenige, was sich gerade in unserer Welt abspielte, von verschiedenen Anhängern dieses Gottes durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Ein Sieg für eine Armee bedeutet die Niederlage einer anderen, ist es nicht so? Daher konnte der Gott oder die Göttin gleichzeitig als jemand angesehen werden, der belohnte und der bestrafte, der forderte und gab oder Gutes und Böses bewirkte. Wenn ihr euch die unendlich vielfältigen möglichen Kombinationen von Umständen vergegenwärtigt, solltet ihr eigentlich auch imstande sein, die Vielfalt von Merkmalen zu begreifen, die wir in jedem Gott sahen, die Mannigfaltigkeit von Erscheinungsformen, die jeder annahm, und selbst die womöglich noch größere Vielfalt von Namen, die wir einem jeden von ihnen gaben – Ehrfurcht und Achtung, Dankbarkeit und Furcht verratende Namen.
Aber ich will darauf nicht weiter herumreiten. Laßt mich vom Geheimnisvoll-Unerklärlichen zurückkehren zum Körperlich-Greifbaren und Handfesten. Ich werde jetzt von Dingen sprechen, welche den fünf Sinnen begreiflich sind, die selbst rohe Tiere besitzen.
Die Insel Xaltócan ist im Grunde ein gigantischer, nahezu ganz aus einem einzigen festen Gestein bestehender Felsen, der sich weitab vom Festland im salzigen roten See erhebt. Hätte es dort nicht drei natürliche Süßwasserquellen gegeben, die sprudelnd dem Felsgestein entsprangen, die Insel hätte nie besiedelt werden können; zu meiner Zeit lebten jedoch an die zweitausend Menschen darauf, die sich auf zwanzig Dörfer verteilten. Auch bot der Felsen in mehr als nur einer Hinsicht Lebensmöglichkeiten, denn er bestand aus Tenéxtetl-Kalkstein, einem wertvollen Material. Im natürlichen Zustand ist diese Art Kalkstein ziemlich weich und läßt sich leicht brechen, selbst mit unseren primitiven Werkzeugen aus Holz, Stein, stumpfem Kupfer oder sprödem Obsidian, die euren Werkzeugen aus Eisen und Stahl so unterlegen sind. Mein Vater war ein Meistersteinhauer, einer von mehreren, welche die weniger sachkundigen Arbeiter beaufsichtigten. Ich begleitete ihn häufig, doch erinnere ich mich besonders an eine Gelegenheit, da er mich mitnahm in den Steinbruch, um mich in seinem Handwerk zu unterweisen.
»Sehen kannst du sie nicht«, sagte er zu
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