Der Azteke
mir, »aber hier – und hier – verlaufen die haarfeinen natürlichen Spalten und Risse dieser besonderen Schicht des Steins. Wenn sie auch für das ungeübte Auge unsichtbar sind, du wirst lernen, sie aufzuspüren.«
Das sollte zwar nie geschehen, doch er hörte nie auf zu hoffen. Ich sah zu, während er die Stirnwand des Steins mit Klecksen von schwarzem Oxitl kennzeichnete. Andere Arbeiter kamen – vom schweißverklebten Staub sahen sie ganz bleich aus – und trieben an den Stellen, die er angegeben hatte, Holzkeile in die winzigen Spalten. Dann gossen sie Wasser über die Keile. Wir gingen nach Hause, und es vergingen mehrere Tage, in denen die Arbeiter die Keile immer wieder mit Wasser übergossen und naß hielten, damit sie sich vollsaugten, anschwollen und im Inneren des Steins zunehmend Druck ausübten. Dann gingen mein Vater und ich abermals zum Steinbruch. Als wir oben am Rand standen, blickten wir hinab. Mein Vater sagte: »Und jetzt paß gut auf!«
Es war, als ob der Stein auf sein Eintreffen und seine Erlaubnis gewartet hätte, denn plötzlich und ohne jedes Zutun von Menschenhand gab die Felswand einen durch Mark und Bein gehenden Knall von sich und platzte auseinander. Gestein kam in mächtigen Quadern heruntergepoltert, anderes löste sich in flachen, ungefähr viereckigen Scheiben vom Muttergestein, und alles fiel unversehrt in die Netze aus dicken Stricken, die aufgespannt worden waren, sie aufzufangen, auf daß sie nicht unten auf dem Boden des Steinbruchs auseinanderbrachen. Wir gingen hinunter, und zufrieden begutachtete mein Vater sie.
»Wenn man sie jetzt noch ein wenig mit Beilen zurechtschlägt«, sagte mein Vater, »und sie mit einem Brei aus fein zerstoßenem Obsidian und Wasser glättet, ergeben diese hier« – er zeigte auf die Kalksteinblöcke – »vorzügliche Bauquadern, während diese dort« – Platten, so groß wie der Boden unseres Hauses und dick wie mein Arm – »zum Verkleiden und Verblenden dienen.«
Ich rieb auf der Oberfläche eines der Blöcke herum, der mir bis zur Hüfte reichte. Sie fühlte sich wächsern und pulverig zugleich an.
»Ach, frisch vom Muttergestein gelöst, sind sie viel zu weich, als daß man sie zum Bauen gebrauchen könnte«, erklärte mein Vater, und fuhr mit dem Daumennagel darüber hinweg, was eine tiefe Rille hinterließ. »Wenn man sie jedoch eine Zeitlang der frischen Luft aussetzt, verfestigen sie sich, werden hart und unverwüstlich wie Granit. Aber solange er noch weich ist, läßt unser Stein sich leicht bearbeiten, kann man ihn mit jedem härteren Stein behauen oder mit einem Sägeseil, das mit Obsidiangrit besetzt ist, durchsägen.«
Der größte Teil des auf unserer Insel gewonnenen Kalksteins wurde auf das Festland oder in die Hauptstadt hinübergeschafft und diente dort als Baumaterial für Mauern, Fußböden und Decken. Da er sich in frisch gebrochenem Zustand jedoch leicht bearbeiten ließ, gab es im Steinbruch auch Steinmetze. Diese Künstler suchten sich die Blöcke von der besten Beschaffenheit aus und meißelten, während sie noch weich waren, Standbilder unserer Götter, Herrscher und anderer Helden daraus. Aus den brauchbarsten Kalksteinplatten fertigten sie Flachrelieffriese und Türstürze, um Tempel und Paläste damit zu schmücken. Aus den Abfallbrocken schnitzten die Künstler jedoch auch die kleinen Hausgötter, die jede Familie ihr eigen nannte und die hochgeschätzt wurden. Wir in unserem Haus hatten selbstverständlich Figürchen von Tonatíu und Tlaloc, aber auch von der Maisgöttin Chicomecóatl und der Herdgöttin Chántico. Meine Schwester Tzitzi hatte sogar ihr eigenes kleines Standbild von Xochiquétzal, der Göttin der Liebe und der Blumen, zu der alle jungen Mädchen um einen passenden und liebevollen Ehemann beteten.
Die Steinsplitter und anderen Abfälle im Steinbruch wurden in den Kalköfen verbrannt, die ich bereits erwähnt habe; dadurch entstand Kalk, ein weiteres wertvolles Baumaterial. Kalk brauchte man als Zusatz zum Mörtel, um die Quadern beim Bau miteinander zu verbinden. Außerdem läßt sich daraus Stuck herstellen, um Häuser aus geringerem Material damit zu verblenden. Mit Wasser vermischt, wird der Kalk zum Enthülsen der Maiskolben benutzt, und die Maiskörner wiederum werden von unseren Frauen zu Mehl zermahlen, um daraus die Tlaxáltin-Fladen zu backen und andere Gerichte zu kochen. Selbst der Schönheitspflege diente der Kalk; eine bestimmte Klasse von Frauen bleichte damit ihr
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