Der Azteke
tief beeindruckten. Männer und Frauen gleichermaßen trugen ganz und gar aus Federn gewebte Umhänge, manche bunt, und manche in einem einzigen, schimmernden Farbton. Die Damen hatten sich, wie es an einem besonderen Tag wie diesem Sitte war, das Haar violett getönt und hielten die Hände in die Höhe, damit auch jedermann die gehämmerten und reichverzierten Ringe an ihren Fingern bewundern könne. Die Herren waren jedoch weit reicher geschmückt als die Damen. Alle trugen sie Diademe, Goldquasten oder reichen Federschmuck im Haar. Manche hatten an Ketten schwere goldene Medaillons um den Hals hängen, und ihre Hand- und Fußgelenke sowie ihre Arme waren mit goldenen Reifen geschmückt. Andere trugen goldene oder edelsteingeschmückte Pflöcke im Ohrläppchen, in Nasenflügeln oder in der Unterlippe – einige sogar in allen dreien.
»Da kommt der Oberschatzmeister«, sagte unser Führer. »Ciuacóatl, die Weibliche Schlange, die im Rang gleich nach dem Verehrten Sprecher selbst kommt.«
Begierig richtete ich meinen Blick auf die Weibliche Schlange, von der ich vermutete, daß sie aussähe wie eines dieser »Menschentiere«, die ich nicht hatte sehen dürfen. Aber es war nur ein Pili wie die anderen auch und überdies keine Frau, sondern ein Mann, der sich höchstens dadurch auszeichnete, daß er womöglich noch prächtiger geschmückt war als die meisten anderen Adligen. Der Lippenpflock, den er trug, war so schwer, daß die Unterlippe ganz herabgezogen wurde und es aussah, als schmolle er. Freilich handelte es sich bei diesem Lippenpflock um ein höchst kunstsinniges Schmuckstück: eine kleine goldene Schlange, dergestalt gearbeitet, daß ihr die winzige züngelnde Zunge aus dem Maul heraus- und wieder hereinfuhr, während der Oberschatzmeister auf seinem Tragstuhl wippend durch die Menge getragen wurde.
Unser Führer mußte über mich lachen; er hatte wohl bemerkt, daß ich enttäuscht war. »Weibliche Schlange – das ist nur ein Titel, mein Junge, und hat mit dem Mann selber nichts zu tun«, sagte er. »Jeder Oberschatzmeister ist von jeher Ciuacóatl genannt worden; dabei kann dir höchstwahrscheinlich keiner sagen, aus welchem Grund eigentlich. Ich könnte mir jedoch denken, daß der Grund darin zu suchen ist, daß Schlangen wie Frauen sich gleichermaßen um Kostbarkeiten ringeln und festhalten, was sie einmal an Schätzen besitzen.«
Unversehens legte sich Schweigen über die Menge, die bisher leise murmelnd gewartet hatte; der Uey-Tlatoáni selbst war eingetroffen. Irgendwie war er ungesehen angekommen, vielleicht hatte man ihn vorher aber auch vor den Blicken der anderen verborgen, denn jetzt stand er plötzlich neben dem verhüllten Sonnenstein. Axayàcatls Antlitz war der großen Pflöcke wegen, die er in der Unterlippe, den Nasenflügeln und den Ohrläppchen trug, kaum zu sehen und wurde überdies noch beschattet von der Sonnenkrone aus scharlachroten Arafedern, die seinen Kopf von einer Schulter zur anderen einrahmte. Auch von seinem übrigen Körper war kaum etwas zu sehen.
Sein Umhang aus goldenen und grünen Papageienfedern reichte ihm bis auf die Füße. Auf der Brust trug er ein großes und verwirrend kompliziert gearbeitetes Rundbild, sein Schamtuch war aus prächtigstem roten Leder, und seine Füße staken in Sandalen, die offenbar aus purem Gold gearbeitet und am Bein bis zum Knie mit goldenen Schnüren festgeschnürt waren.
Eigentlich hätten wir alle auf dem Platz ihn der Sitte gemäß mit dem Tlalqualiztli begrüßen müssen, der Geste des Niederkniens, wobei man mit dem Finger die Erde berührte und diesen dann an die Lippen zu führen hatte. Doch dazu war einfach nicht genug Raum; die Menge ließ eine Art lauten Zischens vernehmen, ein allgemeines leichtes Schmatzen von Küssen. Schweigend erwiderte der Verehrte Sprecher Axayácatl den Gruß, nickte leicht, so daß die prachtvolle Federkrone wippte, und hob seinen aus Mahagoniholz und Gold gearbeiteten Amtsstab.
Er war umgeben von einer Schar Priester, die in ihren schmutzstarrenden schwarzen Gewändern, den schmutzverkrusteten schwarzen Gesichtern und dem blutverklebten langen Haar einen finsteren Gegensatz zu den prächtigen Gewändern des Axayácatl bildeten. Der Verehrte Sprecher legte uns die Bedeutung des Sonnensteins dar, und die Priester stimmten jedesmal, wenn er innehielt, um Atem zu holen, Gebete und Beschwörungen an. Ich kann mich heute nicht mehr an die genauen Worte Axayácatls erinnern und habe sie damals
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