Der Azteke
sogleich hinausgespült wurden. Jeder Raum ging auf einen Besuchergang hinaus, war jedoch von diesem durch ein Netz oder in manchen Fällen auch durch kräftiges Gitterwerk getrennt. Jedes Tier oder aber mehrere Exemplare verschiedener Arten, die verträglich miteinander auskamen, hatte einen Raum für sich.
»Machen die immer einen solchen Lärm?« fragte ich meinen Vater mit lauter Stimme über das Gebrüll und Geheul und Gekreisch hinweg.
»Das weiß ich nicht«, erklärte er. »Aber im Augenblick sind manche von ihnen sehr hungrig, weil sie absichtlich eine Zeitlang nichts zu fressen bekommen haben. Bei dem Fest werden Opfer dargebracht, und die Leichen werden hierhergebracht, als Futter für die Jaguar- und Pumakatzen, für die Coyotin-Wölfe und die Tzopilótin-Geier.«
Ich betrachtete gerade das größte bei uns heimische Tier – den häßlichen und unförmigen trägen Tapir; er wackelte mit seinem Greifrüssel –, da vernahm ich plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir: »Meister Steinhauer, warum zeigt Ihr dem Jungen nicht die Tequàni-Halle?«
Es war der gebeugte braune Mann, dessen Bekanntschaft wir vor kurzem auf der Straße gemacht hatten. Mein Vater bedachte ihn mit einem entsetzten Blick und wollte wissen: »Folgt Ihr uns, zudringlicher Alter?«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Ich habe meine alten Knochen nur hierher geschleppt, um der Einweihung des Sonnensteins beizuwohnen.« Dann wies er mit einer wedelnden Handbewegung auf eine geschlossene Tür am anderen Ende des Ganges und sagte zu mir: »Dort, mein Junge, gibt es wahrhaftig etwas zu sehen! Menschentiere, weit interessanter als diese dumpfen Geschöpfe hier. Eine Tlacaztáli-Frau, zum Beispiel. Weißt du, was ein Tlacaztáli ist? Ein Mensch, leichenweiß, am ganzen Körper, Haut und Haar und alles, bis auf die Augen, die rosarot sind. Und dann ist da ein Zwerg, der nur einen halben Kopf hat, der …«
»Still!« gebot mein Vater streng. »Dies soll ein Freudentag für den Jungen sein. Ich will nicht, daß sich ihm beim Anblick dieser mißgestalteten Wesen der Magen umkehrt.«
»Ach, ach«, sagte der alte Mann. »Manchen bereitet es Vergnügen, die Mißgestalteten und Verstümmelten zu sehen.« Mit glitzernden Augen blickte er mich an. »Aber sie werden noch da sein, junger Mixtli, wenn du groß und überlegen genug bist, dich über sie lustig zu machen und sie aufzuziehen. Ich möchte sogar meinen, daß bis dahin sogar noch mehr Kuriositäten in der Tequáni-Halle zu sehen sein werden, die für dich zweifellos noch unterhaltsamer und erbaulicher sein werden, als diejenigen, die jetzt dort sind.«
»Werdet Ihr jetzt schweigen?« knurrte mein Vater.
»Verzeiht, mein Herr«, sagte der gebeugte alte Mann und kroch womöglich noch mehr in sich zusammen. »Laßt mich meine Dreistigkeit wieder gutmachen. Es ist fast Mittag, und die Zeremonie wird bald beginnen. Wenn wir jetzt gehen und uns gute Plätze sichern, kann ich Euch und dem Jungen manches erklären, was Ihr sonst vielleicht nicht versteht.«
Mittlerweile hatte sich der Platz mehr als gefüllt, standen die Menschen Schulter an Schulter. Wir wären niemals auch nur in die Nähe des Sonnensteins gelangt, wären nicht in letzter Minute immer mehr Adlige eingetroffen, die sich stolz auf vergoldeten und gepolsterten Tragstühlen herbeitragen ließen. Die dicht gedrängt stehenden Angehörigen der Mittelschicht und der niederen Klassen traten ohne Murren beiseite und machten Platz, um sie hindurchzulassen, und der braune Mann suchte sich schlangengleich, mit uns im Gefolge, hinter ihnen seinen Weg, bis wir fast bis zu den vordersten Reihen der eigentlichen Würdenträger vorgestoßen waren. Ich selbst würde immer noch von allen Seiten eingeschlossen und ohne etwas zu sehen dagestanden haben, hätte mein Vater mich nicht emporgehoben und mich auf seine Schulter gesetzt. Mit einem Blick hinunter auf unseren Führer, sagte er: »Ich kann Euch auch hochheben, alter Mann.«
»Ich danke Euch, daß Ihr daran denkt, mein Herr«, sagte dieser, »aber ich bin schwerer, als ich aussehe.«
Aller Augen waren auf den Sonnenstein gerichtet der eigens weithin sichtbar auf einer Terrasse zwischen zwei breiten Treppen der noch unfertigen Großen Pyramide aufgestellt worden war. Freilich war er unseren Augen vorläufig noch durch eine Hülle aus glänzender weißer Baumwolle entzogen. Daher beschäftigte ich mich damit, die eintreffenden Adligen zu bewundern, deren Tragstühle und Gewänder mich
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