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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Flöhen geplagt wird. Die Priester rollten den Leichnam vom Stein herab und ließen ihn höchst unfeierlich einfach von der Terrasse herunterfallen, während schon ein zweites Opfer die Stufen heraufkam. Axayácatl erwies an diesem Tag keinem weiteren Opfer die Ehre, durch seine Hand zu sterben, sondern überließ den Rest den Priestern. Während die Prozession der Opfer weiter vorrückte – und jedes herausgerissene Herz dazu diente, den Sonnenstein zu salben –, sah ich mir den riesigen Rundstein genau an, um ihn später meinem Freund Tlatli beschreiben zu können, der bereits damals angefangen hatte, sich in der Kunst des Bildhauens zu üben, indem er Puppenfiguren aus Holz schnitzte.
    Yyo, ayyo, ehrwürdige Patres, hättet ihr den Sonnenstein doch nur einmal sehen können! Euren Gesichtern entnehme ich, daß ihr die Weihezeremonie mißbilligt – aber hättet ihr den Stein jemals gesehen, wüßtet ihr, daß er all die Mühe, die jahrelange Arbeit und die Menschenleben wert gewesen ist, die er gekostet hat.
    Die Arbeit des Herausmeißelns allein übersteigt alle Vorstellung, denn er bestand aus Porphyr, einem Stein, hart wie Granit. Genau in der Mitte prangte das Gesicht Tonatíus mit starrenden Augen und weit geöffnetem Mund, und zu beiden Seiten des Kopfes wuchsen Klauen heraus, welche die Menschenherzen packten, die seine Speise waren. Den Kopf umringten die vier Symbole jener Weltzeitalter, welche dem Zeitalter vorausgingen, in dem wir leben, sowie ein Kreis mit den Symbolen unserer zwanzig Tagesnamen, und darum wiederum ein Kreis, der abwechselnd die Zeichen für Jade und Türkis enthielt, jene Edelsteine, die von allen bei uns gefundenen Kostbarkeiten im höchsten Ansehen standen. Dieses Kreisband wiederum wurde umringt von den Sonnenstrahlen des Tages, die abwechselten mit den Sternen der Nacht. Und all dies umfassend schließlich die Gestalten zweier Feuerschlangen der Zeit; ihre Schwänze lagen oben auf der Steinscheibe, die Körper bildeten die Rundung und unten trafen beider Köpfe aufeinander. In einem einzigen Stein hatte ein einziger Künstler unser ganzes Universum, unsere gesamte Zeit eingefangen.
    Angemalt war der Stein mit kühnen Farben, säuberlich genau auf jene Stellen aufgetragen, wohin eine jede Farbe gehörte. Und doch machte sich das eigentliche Können des Malers gerade dort besonders bemerkbar, wo überhaupt keine Farbe aufgetragen worden war. Der Porphyr ist ein Stein, der Einsprengsel von Glimmer, Feldspat und Quarz enthält. Wo immer diese kristallinen Einsprengsel sichtbar wurden, hatte der Künstler die Farbe ausgespart. Da nun der Sonnenstein voll den Mittagsstrahlen Tonatíus ausgesetzt war, blitzten und funkelten diese winzigen kleinen Edelsteine wie reinstes Sonnenlicht inmitten der schimmernden Farben. Die ganze riesige Scheibe schien weniger gefärbt als vielmehr von innen erleuchtet. Doch um mir das zu glauben, so meine ich, müßtet ihr den Stein in seiner ganzen ursprünglichen Herrlichkeit einmal gesehen haben. Oder durch die klareren Augen und in dem klareren Licht, dessen ich mich damals erfreute. Oder vielleicht mit der ganzen Eindrucksfähigkeit eines damals noch unaufgeklärten kleinen Heidenjungen …
    Doch wie dem auch sei: Ich wandte meine Aufmerksamkeit von dem Stein ab und unserem Führer zu, der fortfuhr zu berichten, unter welchen Schwierigkeiten und unendlichen Mühen die Riesenscheibe hierhergekommen war:
    »Ein derartiges Gewicht hatte die Dammstraße bis dahin noch nie auszuhalten gehabt. Die mächtigen Steine der beiden Brüder rollten auf den kräftigen Rundhölzern langsam voran, einer hinter dem anderen, als die Straße unter der gewaltigen Last des ersten nachgab und dieser Stein samt seiner Umhüllung hinunterglitt bis auf den Grund des Texcóco-Sees. Den Trägern, die den zweiten heranrollten – diesen Sonnenstein hier –, gelang es, ihn kurz vor der Bruchstelle der Dammstraße zum Halten zu bringen. Er wurde ein letztes Mal auf ein Floß verladen und um die Insel herum hierher gerudert, und so wurde nur er gerettet, allein für uns, auf daß wir ihn heute bewundern können.«
    »Und der andere?« fragte mein Vater. »Nach all der vielen Arbeit, die darauf verwendet worden ist – hätte man da nicht noch ein wenig mehr tun können?«
    »Oh, das hat man selbstverständlich getan, mein Herr. Die geschicktesten Taucher stießen immer und immer wieder in die Tiefe hinab. Aber der Boden des Texcóco-Sees besteht aus einem weichen, möglicherweise

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