Der Azteke
auf Tenochtítlan zuführt. Von dort aus war es eine breite Straße, schnurgerade und nicht länger als doppelt so lang wie Ein Langer Lauf bis hierher zu diesem Platz. Erleichtert atmeten die Künstler auf. Sie hatten schließlich schwer geschafft, und soviele andere Männer hatten mittlerweile auch so schwer geschafft, aber jetzt endlich waren die beiden Bildwerke in Reichweite ihres Bestimmungsortes …«
Ein Raunen ging durch die Menge. Die rund zwanzig Männer, mit deren Lebensblut der Sonnenstein an diesem Tag geweiht werden sollte, standen in einer Reihe hintereinander, und der erste stieg die Treppenstufen der Pyramide hinauf. Offensichtlich handelte es sich nicht um einen gefangengenommenen feindlichen Krieger, sondern einfach um einen stämmigen Mann, etwa im Alter meines Vaters, der nur ein rein weißes Schamtuch trug und ausgemergelt und unglücklich dreinschaute, gleichwohl jedoch bereitwillig, ungefesselt und ohne von irgendwelchen Wachen getrieben zu werden in die Höhe stieg. Oben angekommen, stand er da und blickte stumpf über die Menge hinweg, während die Priester ihre rauchenden Weihrauchgefäße schwenkten und mit Händen und Stäben rituelle Gebärden vollführten. Dann ergriff ein Priester den Xochimique, drehte ihn sanft um und half ihm, sich vor dem verhüllten Stein rücklings auf einen Block zu legen. Bei dem Block handelte es sich um einen kniehohen Stein, der selbst an eine kleine Pyramide erinnerte, so daß, nachdem der Mann sich darauf ausgestreckt hatte, sein Körper die Brust herausdrückte wie in inständiger Erwartung der Klinge.
Er lag der Länge nach vor uns; Arme und Beine wurden ihm von vier Priestern festgehalten, hinter ihm stand der Oberpriester, der Vollstrecker des Opfers, und hielt das breite, fast wie eine Kelle aussehende schwarze Obsidianmesser in der Hand. Noch ehe der Priester das Opfermesser reckte und zum Stoß ausholte, hob der auf dem Opferstein festgehaltene Mann den hinten herunterhängenden Kopf und sagte etwas. Weitere Worte wurden zwischen den auf der Terrasse Versammelten gewechselt, und dann reichte der Priester seine Klinge Axayácatl . Die Menge stieß Laute der Verwunderung und Verwirrung aus. Diesem Opfer sollte aus irgendeinem Grund offenbar die hohe Ehre zuteil werden, von des Uey-Tlatoáni höchsteigener Hand zu sterben.
Weder zögerte Axayácatl noch stellte er sich in irgendeiner Weise ungeschickt an. Genauso gekonnt wie nur irgendein Priester stieß er dem Mann die Messerspitze auf der linken Seite in die Brust eben unterhalb der Brustwarze und zwischen zwei Rippen, machte dann einen blitzschnellen Längsschnitt und vollführte mit der breiten Klinge eine Kreisbewegung, um die Rippen zu durchtrennen und die Wunde weiter zu öffnen. Mit der anderen Hand griff er dann in die feuchte rote Öffnung, packte das unbeschädigte und immer noch schlagende Herz und riß es vom Geflecht der Blutgefäße los, an dem es hing. Erst jetzt ließ der Xochimique seinen ersten Schmerzenslaut ertönen – ein blubberndes Wimmern –, und das war der letzte Lebenslaut, den er von sich gab.
Während der Verehrte Sprecher das schimmernde, tropfende und dunkelrote Herz in die Höhe reckte, zog ein Priester irgendwo an einer verborgenen Schnur, die Hülle des Sonnensteins fiel zu Boden, und die Menge stieß ein bewunderndes allgemeines »Ay-y-yo-o!« aus. Axayácatl vollführte eine Kehrtwendung, reckte den Arm noch höher und drückte das Herz des Opfers genau in die Mitte des kreisrunden Steins hinein, in den Mund von Tonatíu, der dort herausgemeißelt worden war. Er drehte und drückte das Herz, bis es nur noch ein Brei auf dem Stein und in seiner Hand nichts mehr übrig war. Priester haben mir berichtet, daß der Spender des Opferherzens für gewöhnlich noch lange genug lebte, um zu sehen, was mit seinem Herzen geschah. Dieser hier jedoch kann nicht viel gesehen haben. Als Axayácatl fertig war, war vom Blut und dem zerriebenen Fleisch kaum etwas zu erkennen, weil das gemeißelte Antlitz der Sonne bereits in einer Farbe prangte, welche der des Herzblutes sehr ähnlich war.
»Sauber gemacht«, sagte der gebeugte Mann neben meinem Vater. »Ich habe schon oft erlebt, wie ein Herz noch so kräftig fortfuhr zu schlagen, daß es dem Vollzieher des Opfers aus den Fingern sprang. Aber ich glaube, das Herz dieses Mannes war bereits vorher gebrochen.«
Jetzt lag der Xochimíqui regungslos da, nur seine Haut zuckte hier und dort wie das Fell eines Hundes, der von
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