Der Azteke
vermutlich auch nicht alle begriffen, doch liefen sie auf folgendes hinaus: Wenn auch der Sonnenstein das Bild der Sonne Tonatíu trage, werde alle Ehre, die ihm gezollt werde, gleichzeitig auch Tenochtítlans Hauptgott Huitzilopóchtli, dem Südlichen Kolibri, zuteil.
Ich habe euch bereits dargelegt, daß unsere Götter ganz unterschiedliche Gesichter und Namen tragen konnten. Nun,
Tonatíu war die Sonne, und die Sonne war unverzichtbar, denn ohne sie würde alles Leben auf Erden zugrundegehen. Wir Xaltocaner und die Bewohner vieler anderer Gemeinden waren es zufrieden, ihn als Sonne zu verehren. Nur lag es auf der Hand, daß die Sonne Nahrung brauchte, um stark zu bleiben, und daß man sie ermutigen mußte, ihre tägliche Arbeit nicht zu vernachlässigen – und womit konnten wir ihr mehr Lebenskraft geben und sie mehr für ihr Tun begeistern als mit dem, was sie uns gab? Was heißt: das menschliche Leben selbst. Deshalb trug der mildtätig-freundliche Sonnengott auch noch das Antlitz des wilden Kriegsgottes Huitzilopóchtli, der uns Mexíca auf allen unseren Kriegszügen anführte, die wir unternahmen, um Gefangene für dieses notwendige Opfer zu machen. So wurde er in der strengen Gestalt des Huitzilopóchtli hier in Tenochtítlan am meisten verehrt, denn Tenochtítlan war der Ort, wo alle unsere Kriege geplant und erklärt und die dafür nötigen Krieger ausgehoben wurden. Unter noch einem anderen Namen – Tezcatlipóca – Glühender Spiegel – war die Sonne der Hauptgott unseres Nachbarvolkes, der Acólhua. Und wie ich nachgerade argwöhne, müssen zahllose andere Völker, die ich nie kennengelernt habe – sogar Völker jenseits des großen, großen Meeres, über das ihr Spanier herübergekommen seid – gleicherweise diesen selben Sonnengott verehren, wobei sie ihn nur anders nennen, je nachdem, wie sie ihn sehen: lächelnd oder finster dreinschauend. Während der Uey-Tlatoán weitersprach, die Priester zwischendurch ihre Gesänge sangen und eine Anzahl von Musikanten begann, auf Flöten, Riffelknochen und hautbespannten Trommeln zu spielen, hielt uns unser kakaobrauner alter Führer einen Vortrag über die Geschichte des Sonnensteins.
»Im Südosten von hier liegt das Land der Chalca. Als der verstorbene Motecuzóma sie vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren unterwarf, waren die Chalca selbstverständlich verpflichtet, den siegreichen Mexíca ein ansehnliches Tributopfer zu bringen. Zwei junge Chalca-Brüder erboten sich freiwillig, jeweils ein Monument aus Stein zu meißeln, das hier Im Herzen Der Einen Welt aufgestellt werden sollte. Sie suchten sich ähnliche Steine aus, nahmen sich aber jeder ein anderes Thema vor und arbeiteten ganz unabhängig voneinander. Kein Mensch bekam es jemals zu sehen, und auch keiner der Brüder bekam zu sehen, was der andere meißelte.«
»Nun, ihre Frauen werden ja wohl heimlich mal einen Blick darauf geworfen haben«, sagte mein Vater, der eine solche Frau hatte.
»Kein Mensch bekam es jemals zu sehen«, wiederholte der alte Mann, »in all den zweiundzwanzig Jahren, die sie die Steine bearbeiteten und bemalten – und in dieser Zeit erreichten sie ihr mittleres Mannesalter und Motecuzóma ging in die Gegenwelt ein. Dann verhüllten sie unabhängig voneinander ihr fertiges Werk in Fasermatten, und der Herr der Chalca brachte wohl an die tausend stämmige Träger auf, die Steine hierher in die Hauptstadt zu schaffen.«
Er wies mit der Hand auf den immer noch verhüllten Gegenstand auf der Terrasse über uns. »Wie ihr seht, ist der Sonnenstein gewaltig groß: er mißt mehr als zwei mal zwei ausgewachsene Männer übereinander –und ist ungeheuer schwer: er wiegt soviel wie dreihundertundzwanzig Männer zusammen. Der andere Stein war ungefähr genauso groß und schwer. Herbeigeschafft wurden sie über holprige Wege und durch völlig unwegsames Gelände. Man rollte sie mit Hilfe von Rundhölzern voran, schleifte sie auf hölzernen Kufen, brachte sie mit mächtigen Flößen über die Flüsse. Überlegt nur, welche Kraft das gekostet hat, welchen Schweiß, wie viele gebrochene Knochen und wie viele Tote, die einfach umfielen, wenn sie nicht mehr stehen und ziehen oder die Peitschenhiebe der Aufseher ertragen konnten.«
»Und wo ist der andere Stein?« fragte ich, doch ging er darüber einfach hinweg.
»Zuletzt kamen sie an die Seen Chalco und Xochimilco, welche sie gleichfalls mit Flößen überwanden, und gelangten so an die große Dammstraße, die in nördlicher Richtung
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