Der Azteke
altes Weib. Wenn wir Mexíca immer auf jene gehört hätten, die uns sagen wollten, was nicht zu machen sei, hätten wir nie etwas auf die Beine gestellt.«
»Ihr habt mich nach meiner Meinung gefragt, alter Freund, und ich habe sie Euch gesagt«, erklärte Nezahualpüi. »Aber die letzte Verantwortung liegt bei Euch und« – er lächelte – »Ihr heißt schließlich nicht umsonst Wasser Ungeheuer.«
Der Bau des Aquädukts wurde ungefähr ein Jahr nach dieser Unterhaltung abgeschlossen, und die Seher des Palasts gaben sich größte Mühe, einen möglichst glückverheißenden Tag für die Einweihung und das Fließenlassen des Wassers auszusuchen. Ich erinnere mich genau an diesen Tag – Dreizehn Wind –, denn er machte seinem Namen alle Ehre.
Die Menschen strömten lange vor Beginn der Zeremonie zusammen, handelte es sich doch um ein Ereignis von nahezu genauso großer Bedeutung wie die Einweihung der Großen Pyramide vor zwölf Jahren. Doch selbstverständlich konnten nicht alle Menschen auf dem Damm von Coyohuácan Platz finden, wo die Hauptrituale abgehalten werden sollten. Die Masse der Gemeinfreien mußte sich am südlichen Ende der Stadt zusammendrängen, sich den Hals ausrenken und die Augen zusammenkneifen, um einen Blick auf Ahuítzotl und seine Frauen, seinen Staatsrat, die erlauchtesten Vertreter des Adels, Priester, Ritter und andere Persönlichkeiten zu erhäschen, welche mit dem Kanu vom Palast kamen, um ihren Platz auf dem Damm zwischen der Stadt und der Feste Acachinánco einzunehmen. Unseligerweise hatte ich mich in der vollen Kampfkleidung des Adlerritters unter diesen Würdenträgern und in der Gesellschaft der anderen Adlerritter einzufinden. Zyanya wollte gleichfalls dabei sein und Cocóton mitbringen, doch abermals redete ich ihr das aus.
»Selbst wenn ich es schaffte, euch einen Platz zu reservieren, von dem aus ihr etwas sehen könntet«, sagte ich, als ich mich an diesem Morgen in den gesteppten und federngeschmückten Kampfanzug hineinzwängte »würdet ihr nur unter dem Wind zu leiden haben und vom Gischt bis auf die Haut naß werden. Außerdem könntest du im Gewühl stürzen oder ohnmächtig werden und das Kind zu Tode gedrückt.«
»Vermutlich hast du recht«, sagte Zyanya und schien nicht sonderlich enttäuscht. Leidenschaftlich drückte sie das kleine Mädchen an sich. »Und Cocóton ist viel zu hübsch, als daß sie von irgend jemand gedrückt werden sollte als von uns.«
»Nicht drücken!« klagte Cocóton, allerdings recht würdevoll. Sie entwand sich den Armen ihrer Mutter und lief auf unsicheren Beinchen auf die andere Seite der Kammer hinüber. Zwar gebot unsere Tochter mit ihren zwei Jahren über einen beträchtlichen Wortschatz, aber sie war kein Plappermaul; sie verwendete selten mehr als zwei Wörter auf einmal.
»Als Krümelchen auf die Welt kam, fand ich sie häßlich«, sagte ich, als ich mich weiter anzog. »Und jetzt finde ich sie so hübsch, daß ich mir gar nicht vorstellen kann, wie sie noch hübscher werden soll. Sie kann höchstens weniger schön werden, und das wäre ein Jammer. Wenn sie soweit ist, daß wir sie unter die Haube bringen möchten, wird sie aussehen wie eine Wildsau.«
»Wildsau«, stimmte Cocóton aus ihrer Ecke her zu.
»Das wird sie nicht«, erklärte Zyanya mit Entschiedenheit. »Wenn ein Kind überhaupt hübsch ist, erreicht es den Gipfel seiner Kleinkinderschönheit irn Alter von zwei Jahren und bleibt weiterhin bezaubernd – wobei es selbstverständlich zu kaum merklichen Veränderungen kommt-, bis sie mit sechs den Gipfel ihrer Kinderschönheit erreicht. Kleine Jungen werden dann zwar nicht mehr hübscher, aber kleine Mädchen…«
Ich knurrte.
»Ich meine, Knaben hören auf, schön zu sein. Kann sein, daß sie stattlich werden, anmutig und männlich, aber nicht schön. Zumindest sollten sie hoffen, es nicht zu werden. Die meisten Frauen haben genausosehr etwas gegen schöne Männer wie andere Männer auch.«
Woraufhin ich sagte, dann sei ich doch froh, so ein häßlicher Bursche geworden zu sein. Als sie dem nicht widersprach, setzte ich ein spöttisch schmollendes Gesicht auf.
»Einen weiteren Höhepunkt der Schönheit«, fuhr sie fort, »erreichen kleine Mädchen dann ungefähr mit zwölf Jahren, kurz bevor sie ihre erste Blutung bekommen. Während ihrer Reifezeit sind sie zumeist viel zu ungestüm und zu jungenhaft, als daß man sie überhaupt bewundern könnte. Doch dann fangen sie wieder an zu blühen, und ungefähr mit
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