Der Azteke
sagte Kitzlig und legte mir eine Hand auf den Arm. »Wir werden hier mit ihr leben, solange es nötig ist. Und wir werden dafür sorgen, daß sie dich nicht vergißt, Mixtli.«
Sie gingen, um die wenigen Habseligkeiten, die sie aus den Trümmern ihres eigenen Hauses gerettet hatten, in mein Haus zu bringen, und ich selbst schnürte am selben Abend noch ein leichtes, mit allem Nötigen versehenes Reisebündel, ging in die Kinderkammer, weckte Cocóton und erklärte dem verschlafenen kleinen Mädchen:
»Deine Teñe hat mich gebeten, dir in unser beider Namen Lebewohl zu sagen, Krümelchen, weil … weil sie unsere Trägerkolonne nicht allein lassen kann, sonst zerstreuen die Leute sich und laufen weg wie Mäuse. Ich soll dir aber einen Abschiedskuß von ihr geben. Hat das nicht genauso geschmeckt wie ein Kuß von ihr?« Überraschenderweise hatte er das, zumindest für mich. »So, Cocóton, nimm jetzt mit den Fingern Tenes Kuß von deinen Lippen und halt ihn fest in deiner Hand, ja, so, damit dich jetzt auch dein Tete küssen kann. So ist's fein. Jetzt nimm meinen und ihren Kuß, halt sie beide fest in der Hand und schlaf weiter. Und wenn du aufstehst, heb sie irgendwo sicher auf, damit die Küsse wieder zu uns zurückkommen können, wenn wir wieder da sind.«
»Da sind«, sagte sie verschlafen, lächelte ihr Zyanya-Lächeln und machte ihre Zyanya-Augen zu.
Unten schniefte Türkis, und Stern Sänger schneuzte sich ein paarmal die Nase, als wir uns Lebewohl sagten, ich sie mit der Leitung des Haushalts betraute und sie noch einmal darauf hinwies, daß sie bis zu meiner Rückkehr Cozcatl und Quequelmiqui als ihren Herrn und ihre Herrin zu betrachten hätten. Ehe ich die Stadt ganz verließ, schaute ich noch einmal im Haus der Fernhändler vorbei und gab dort eine Nachricht ab, welche mit der nächsten Pochtéca-Kolonne in Richtung Tecuantépec abgehen sollte. In dem gefalteten Papier teilte ich Béu Ribé – in den wenigst schmerzenden Wortbildern, deren ich fähig war – den Tod ihrer Schwester mit und wie sie gestorben sei.
Ich kam gar nicht auf den Gedanken, daß der übliche Fluß des Mexíca-Handels eine beträchtliche Unterbrechung erfahren haben könnte und meine Nachricht nicht so bald in Béus Hände gelangen würde. Die Chinámpa-Felder, welche die Insel Tenochtítlan umringen, hatten vier Tage unter Wasser gestanden, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in welcher Mais, Bohnen und andere eßbare Pflanzen gerade eben angefangen hatten zu keimen. Und nicht nur, daß das Wasser die Keime zerstört hatte – es war auch in die Lagerhäuser eingedrungen, in welchen Notvorräte lagerten, und hatte sämtliche getrockneten Lebensmittel vernichtet. Infolgedessen waren die Mexíca-Kaufleute und ihre Träger viele Monde hindurch ausschließlich damit beschäftigt, zumindest notdürftig die Versorgung der notleidenden Stadt sicherzustellen. Zu diesem Zwecke waren sie ständig unterwegs, zogen jedoch nicht in weite Ferne, und so kam es, daß Wartender Mond erst über ein Jahr später erfahren sollte, was geschehen war.
Auch ich war während dieser Zeit ständig unterwegs und ließ mich vom Wind treiben wie Löwenzahnsamen, oder wohin mich eine besonders verlockende Landschaft trieb oder ein sich windender Pfad führte, als sagte er zu mir: »Folg mir! Gleich um die nächste Biegung liegt ein Land, welches Ruhe und Vergessen schenkt.« Selbstverständlich gab es einen solchen Ort nicht. Ein Mensch kann bis ans Ende aller Wege gehen, die es gibt, und bis an das Ende aller seiner Tage, und doch kann er nirgends seine Vergangenheit ablegen und davongehen, ohne jemals zurückzublicken.
Die meisten meiner Erlebnisse in dieser Zeit dienten keinem besonderen Zweck; ich war auch nicht darauf aus, Handel zu treiben oder mich mit Dingen zu belasten, die ich erwarb, und wenn es glückliche Entdeckungen zu machen gab – wie etwa jene der großen Stoßzähne damals, als ich auf der Flucht vor einem anderen Herzeleid war –, ging ich an ihnen vorüber, ohne sie wahrzunehmen. Zu dem einen Erlebnis, welches wert ist, nicht vergessen zu werden, kam es rein zufällig und zwar auf folgende Weise:
Ich befand mich in der Nähe der Westküste, im Land der Nauyar Ixu, einer der abgelegenen Nordwestprovinzen oder abhängigen Gebiete von Michihuácan. Ich war dorthin gezogen, nur um einen Vulkan zu sehen, der seit einem Mond nahezu ununterbrochen in Tätigkeit gewesen war und drohte, nie aufzuhören. Dieser Vulkan heißt Tzebóruko, was
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