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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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bringen? Freilich würde ich meinen, nur dem gemeinen Volk blieb nichts anderes übrig, als sich dies zu fragen, denn Aufgabe der Priester war es, jedes Mittel der Überredung und Überzeugung einzusetzen, welches ihnen zur Verfügung stand. Kurz nach Sonnenuntergang, als die Nacht ganz dunkel geworden war, zog eine ganze Prozession – die Oberpriester eines jeden Gottes und einer jeden Göttin, ganz gleich, ob bedeutend oder unbedeutend, und jeder Priester bekleidet, maskiert und angemalt, daß er der Gottheit glich, welcher er diente – von Tenochtítlan über den südlichen Damm zum Huixáchi-Hügel hinüber. Hinter ihnen her zogen der Verehrte Sprecher und seine geladenen Gäste, alle in formlose Sackkleider gekleidet, so daß sie weder als hochstehende Herren, noch als Weise Männer, Zauberer und andere Würdenträger zu erkennen waren. Unter ihnen befand diesmal auch ich mich und rührte meine Tochter Nochipa an der Hand.
    »Du bist jetzt gerade neun Jahre alt«, hatte ich zu ihr gesagt, »und es bestehen gute Aussichten, daß du auch noch die nächste Neufeuer-Zeremonie miterlebst. Allerdings ist es fraglich, ob du dann eingeladen wirst, sie von nahem zu verfolgen. Du kannst von Glück sagen, daß du bei dieser dabei sein darfst.«
    Sie war von dieser Aussicht ganz aufgeregt, denn es war die erste bedeutende religiöse Feier, zu welcher ich sie mitnahm. Hätte es sich nicht um einen so feierlichen und ernsten Anlaß gehandelt, sie wäre fröhlich an meiner Seite einhergesprungen. Statt dessen schritt sie jetzt gemessen, wie es sich gehörte, in einem unauffälligen Gewand und mit einer Maske, die ich ihr aus einem Agavenblatt gefertigt, neben mir dahin. Als wir dem Rest der Prozession durch eine Dunkelheit folgten, welche nur durch eine schmale Mondsichel dämmerig erhellt wurde, mußte ich an jene längst vergangene Zeit denken, da ich wie gebannt meinen eigenen Vater über ganz Xaltócan begleitet hatte, um der Zeremonie zu Ehren des Gottes der Vogelsteller, Atláua, beizuwohnen.
    Die Maske, die ihr ganzes Gesicht verdeckte, trug Nochipa deshalb, weil in dieser besonders heiklen und bedenklichen Nacht jedes Kind eine trug. Der Glaube – oder die Hoffnung – ging dahin, daß die Götter, falls sie beschlossen, die Menschheit auf der Erde zu vertilgen, die verkleideten Kinder fälschlich für irgendwelche andere als menschliche Geschöpfe halten und daher verschonen könnten, damit zumindest ein paar überlebten, unsere Rasse weiter fortzupflanzen. Erwachsene unternahmen keine solchen schwachen Versuche, sich zu verkleiden, doch legten sie sich auch nicht schicksalsergeben schlafen. Überall in dem lichtlosen Land verbrachten die Menschen diese Nacht auf den Hausdächern und knufften und zwickten sich, um sich wach zu halten; aller Augen waren dabei auf den Huixáchi-Hügel gerichtet, und man betete um das Auflodern des Neuen Feuers, welches ihnen sagte, daß die Götter die schlimmste aller Heimsuchungen noch einmal aufgeschoben hatten.
    Der in unserer Sprache Huixáchtlan genannte Hügel liegt auf dem vorspringenden Bergzug zwischen Texcóco-und Xochimilco-See, südlich der Stadt Ixtapalápan. Der Name geht auf das Dickicht von Huixáchi-Sträuchern zurück, welche um diese Zeit der Jahreswende gerade ihre winzigen gelben Blüten öffneten, die einen unverhältnismäßig starken und betäubend süßlichen Duft verströmten. Ansonsten zeichnet den Hügel nichts Besonderes aus, war er wirklich nur ein kleiner Erdbuckel, verglichen mit den weiter entfernten Bergen. Doch unversehens aus dem Flachland um die Seen herum aufsteigend, war er hoch genug und lag er auch nahe genug, daß er von allen Einwohnern der am See gelegenen Gemeinwesen gesehen werden konnte – bis hin nach Texcóco im Osten und Xaltócan im Norden – und das war der Grund, warum man ihn irgendwann in der Frühzeit unserer Geschichte einmal erkoren hatte, als Stätte der Neufeuer-Zeremonie zu dienen.
    Als wir den Pfad hinanstiegen, welcher sich sanft bis zum Scheitel des Hügels in die Höhe schraubt, ging ich dicht genug hinter Motecuzóma her, um ihn besorgt murmeln und leise zu einem seiner Berater sagen zu hören: »Die Chiquacéntetl wird doch heute nacht aufgehen, oder?«
    Der Weise Mann, ein ältlicher Astronom, der allerdings noch sehr gut sehen konnte, sagte achselzuckend: »Bisher hat sie es immer getan, Hoher Gebieter. Nichts in meinen Beobachtungen deutet darauf hin, daß sie es nicht immer tun wird.«
    Chiquacéntetl bedeutet

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