Der Azteke
und ein Fremder muß hier eine Seltenheit gewesen sein; gleichwohl verlor keiner von ihnen ein Wort über meine Anwesenheit. Keiner grüßte mich oder erkundigte sich freundlich danach, ob ich wirklich so hungrig sei, wie ich zweifellos aussah, oder zerriß sich den Mund über mich als einem unliebsamen Eindringling.
Die Nacht senkte sich hernieder, die Straßen leerten sich, und das Dunkel wurde nur von den spärlich aufglimmenden Herdfeuern und den Kokosnußölfunzeln ein wenig erhellt, deren Schein aus den Häusern herausdrang. Ich hatte genug von der Stadt gesehen und konnte jetzt ohnehin nur noch wenig erkennen, was bedeutete, daß ich jeden Augenblick Gefahr lief, in einen Kanal hineinzufallen. Ich fing daher einen jener Männer ab, die noch spät heimkehrten, und versuchten, unbemerkt an mir vorüberzueilen, und erkundigte mich bei ihm, wo ich den Palast ihres Verehrten Sprechers finden könne.
»Palast?« murmelte er. »Verehrter Sprecher?«
Ich hätte wissen sollen, daß ein Palast für diese Hüttenbewohner etwas war, was sie sich gar nicht vorstellen konnten, und es hätte mir gleichfalls einfallen sollen, daß die Verehrten Sprecher der Azteca diesen Titel erst lange, nachdem sie zu Mexíca geworden waren, angenommen hatten. Infolgedessen wandelte ich meine Frage ein wenig ab.
»Ich suche euren Herrscher. Wo wohnt er?«
»Ah, den Tlatocapili«, sagte der Mann, und Tlatocapili bedeutet nichts Höheres als Stammeshäuptling, wie die Anführer jener barbarischen Wüstenhorden. Eilends bedeutete der Mann mir, wohin ich mich wenden solle, sagte dann: »Jetzt komme ich zu spät zum Essen« und verschwand in der Nacht. Für ein Volk, welches mitten im Nirgendwo festsaß und kaum etwas Vernünftiges zu tun hatte, schien es ihnen ein närrisches Vergnügen zu bereiten, stets so zu tun, als hätten sie es eilig.
Wiewohl die Azteca von Aztlan Náhuatl sprachen, verwendeten sie viele Wörter, von denen ich annahm, daß die Mexíca sie längst aufgegeben hatten, und dazu andere, welche sie offensichtlich von ihren Nachbarstämmen übernommen hatten, denn einiges erkannte ich als Kaita und verballhorntes Pore. Andererseits begriffen die Azteca viele Náhuatl-Wörter nicht, die ich gebrauchte – Wörter, von denen ich annahm, daß sie erst lange nach ihrer Auswanderung in die Sprache Eingang gefunden hatten, inspiriert von Dingen und Gegebenheiten der Außenwelt, von denen diejenigen, die daheim geblieben waren, keine Ahnung hatten. Schließlich ändert unsere Sprache sich immer noch, um sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. So sind erst in den letzten Jahren Worte wie Cahuáyo für Pferd dazugekommen, Crixtanóyotl für Christentum, Caxtiltéca für Castilier und Spanier im allgemeinen, Pitzóme für Schweine …
Der »Palast« der Stadt war immerhin ein anständig errichtetes Haus mit einer Fassade aus schimmerndem Muschelkalkstuck und mehreren Räumen. Am Eingang traf ich eine junge Frau, die sagte, sie sei die Frau des Tlatocapili. Sie bat mich nicht, einzutreten, sondern fragte mich nur unruhig nach meinem Begehr.
»Ich möchte den Tlatocapili sprechen«, sagte ich unter Aufbietung meiner letzten Geduld. »Ich komme von weit, weit her, eigens um ihn zu sehen.«
»Wirklich?« sagte sie und biß sich auf die Lippe. »Es kommen ihn nur wenige besuchen, und er möchte eigentlich noch weniger sehen. Aber gleichviel – er ist noch nicht daheim.«
»Dürfte ich denn eintreten und warten?« bat ich eigensinnig.
Sie überlegte einen Moment, trat dann beiseite und sagte unentschieden: »Warum eigentlich nicht. Aber er wird hungrig sein und essen wollen, ehe er irgend etwas sonst tut.« Ich wollte schon sagen, gegen etwas zu essen hätte ich selbst auch nichts einzuwenden, doch fuhr sie fort: »Er wollte heute abend unbedingt Froschschenkel essen, deshalb mußte er aufs Festland hinüber, denn dieses Wasser hier ist zu salzig für sie. Offenbar hat er nur wenige gefangen, denn er kommt sehr spät.«
Es hätte nicht viel gefehlt, und ich würde gemacht haben, daß ich wieder aus dem Haus verschwunden wäre. Doch dann überlegte ich: Kann die Strafe für das unfreiwillige Bad des Tlatocapili schlimmer sein als das Bemühen, ihm dadurch aus dem Wege zu gehen, daß ich unter den Moskitoschwärmen auf dieser stinkenden Insel spazierengehe? Ich folgte der Frau durch einen Raum, in welchem eine Reihe von Kindern und ein paar sehr alte Leute eine Mahlzeit Sumpfgemüse verzehrten. Allen fielen fast die Augen aus dem
Weitere Kostenlose Bücher