Der Azteke
einen Ort gefunden hatten, wo die Kunst der Wortkunde blühte, hatte ich Zugang zu den Bibliotheken des Wissens, welches die Azteca-Mexíca in all den nachfolgenden vielen Schock Jahre gesammelt hatten, ganz zu schweigen von den Künsten und den Wissenschaften noch älterer Zivilisationen. Kulturell wie intellektuell war ich meinem Vetter Mixtli überlegen, wie ein Gott mir überlegen sein mochte. Gleichwohl nahm ich mir vor, nicht mit dieser Überlegenheit großzutun. Es war schließlich nicht seine Schuld, daß ihm auf Grund der Trägheit seiner Ahnen alle Vorteile versagt geblieben waren, welche mir zuteil geworden waren. Mir tat dieser Vetter Mixtli von Herzen leid. Ich nahm mir vor, alles zu tun, um ihn aus seinem dumpfen Aztlan herauszulocken in die aufgeklärte moderne Welt.
Der Großvater seiner Frau, Canaútli, der betagte Geschichtserinnerer, leistete uns beim Essen Gesellschaft. Der alte Mann war einer jener gewesen, welche ich zuvor sich an dem unansehnlichen Sumpfgemüse hatte gütlich tun sehen. Jetzt sah er recht verlangend zu, wie wir beiden Mixtlis uns unsere köstlichen Froschschenkel munden ließen. Ich glaube, der alte Canaútli achtete mehr auf unser Geschmatze und Fingergelecke als auf meine Ausführungen. Denn wiewohl ich hungrig war, gelang es mir zwischendurch kurz darzulegen, warum ich hergekommen war und was aus den Azteca geworden war, welche Aztlan verlassen hatten: wie sie erst als Tenóchca und dann als Mexíca berühmt geworden waren, dann als die Ersten Herrn in Der Einen Welt. Gelegentlich schüttelten der alte wie der junge Mann in schweigender Bewunderung den Kopf – oder vielleicht war es auch Unglaube –, als ich von einer Leistung und einem Fortschritt und Triumph in den Kriegen nach dem anderen erzählte.
Einmal unterbrach der Tlatocapüi mich und murmelte: »Bei den sechs Teilen der Göttin, wenn die Mexíca solche Größe erlangt haben, sollten wir vielleicht den Namen Aztlan ändern.« Sinnend schlug er zwei oder drei neue Namen vor: »Ort der Mexíca, Erste Heimat der Mexíca …«
Ich fuhr fort, ihnen eine kurze Beschreibung des augenblicklichen Uey-Tlatoáni der Mexíca, Motecuzóma, zu geben und lieferte ihnen dann eine überschwengliche Beschreibung unserer Hauptstadt Tenochtítlan. Der alte Großvater seufzte und schloß die Augen, gleichsam als könne er sie sich dann besser vorstellen.
Ich sagte: »Die Mexíca hätten es nicht so schnell so weit bringen können, wenn sie sich nicht der Kunst der Wortkunde bedient hätten.« Sodann deutete ich schwerfällig an: »Auch du, Tlatocapíli Mixtli, könntest Aztlan zu einer prächtigeren Stadt machen und dein Volk aufwärts führen, daß sie auf gleicher Höhe stehen wie eure Vettern, die Mexíca – wenn du lerntest, das gesprochene Wort in bleibenden Bildern zu bewahren.«
Er zuckte mit den Achseln und sagte: »Wir haben noch nicht darunter gelitten, daß wir diese Bilderschrift nicht kannten.«
Gleichwohl – sein Interesse schien doch wach zu werden, als ich ihm zeigte – indem ich einen schlanken Froschknochen nahm und auf den festgestampften Boden kratzte –, auf welch einfache Weise sein Name für immer eingegraben werden könne.
»Gewiß«, räumte er ein, »das ist die Gestalt einer Wolke. Aber wie kannst du sie zu einer Dunklen Wolke machen?«
»Dazu brauchst du sie nur mit einer dunklen Farbe – Grau oder Schwarz – auszufüllen. Ein einfaches Wortbild läßt sich unendlich abwandeln. Male dieses Bild zum Beispiel blaugrün an, und du hast den Namen Jadestein Wolke.«
»Ist das so?« sagte er und dann: »Und was ist Jadestein?« Wieder klaffte der Abgrund zwischen uns. Er hatte von dem Gestein, welches bei allen zivilisierten Völkern als heilig galt, nie etwas gehört, geschweige denn, daß er es gesehen hätte.
Ich murmelte, es werde spät, und morgen früh würde ich ihm mehr berichten. Mein Vetter bot mir ein Lager für die Nacht, wenn ich nichts dagegen einzuwenden hätte, den Raum mit ein paar anderen vermutlich männlichen Verwandten von mir zu teilen. Ich nahm dankend an und schloß die Rede des heutigen Tages damit, daß ich erklärte, wie ich nach Aztlan gekommen sei: Indem ich den Zug meiner Vorfahren zurückverfolgt und versucht hatte, dem Wahrheitsgehalt einer Legende auf die Spur zu kommen. Ich wandte mich an den alten Canaútli und sagte:
»Vielleicht weißt du es, ehrwürdiger Geschichtserinnerer: Als sie von hier fortzogen – führten sie da soviel Vorräte mit sich, daß sie
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